Liebe Leserin, lieber Leser,
gibt es in Deutschland heute weniger oder mehr
Tier-und Pflanzenarten als vor der Industria
lisierung? Was für eine Frage, denken Sie ver
mutlich, die Antwort liegt doch auf der Hand:
natürlich weniger! Wie könnte es auch anders
sein: Jeden Tag hören wir vom dramatischen
Artentod, den der Mensch über die Erde bringt.
Daran ist nicht zu zweifeln. Und doch ist das
Artensterben kein linearer Prozess. An vielen
Stellen in Deutschland besteht Grund zur Hoff
nung, weil sich Habitate stabilisieren oder sich
neue Arten ansiedeln; und längst nicht jeder
Neuankömmling ist schädlich. Ähnliches beob
achten Biologen an vielen Stellen der Erde. So
gar in Regenwäldern: Wird in ihnen selektiv (!)
eingeschlagen, werden also einzelne Bäume ent
fernt, besitzen sie danach oftmals eine höhere
Artenvielfalt als alte, unberührte Wälder.
Die Ursache für die lokale Spezies-Vermeh
rung ist simpel: Die Eingriffe des Menschen
können neuartige Lebensräume schaffen, die
neuen Arten eine Chance geben. Denn je grö
ßer die Vielfalt der Habitate, umso größer die
der Spezies.
Der Mensch sorgt, keine Frage, auch für le
bensfeindliche, verkümmerte Umwelten, etwa
durch Kahlschlag im Regenwald. Brutalitäten
GEO 09 2019
Editorial
September 2019
Vielfalt auf dem
Tisch: Projekt
leiterin Mirjam
Gleßmer beim
GEO-Tag der
Natur im Ökodorf
Brodowin
wie diese fesseln unsere Aufmerksamkeit, aber
sie sind zum Glück nur ein Teil des ökologischen
Geschehens auf unserem Planeten.
Entwarnung also? Artensterben relativiert?
Keineswegs. Die steigende lokale Vielfalt geht
durchaus Hand in Hand mit einer sinkenden
globalen Gesamtzahl der Spezies. Außerdem
kommt es nicht allein auf die Anzahl der Arten
an, sondern auch auf die Menge der Individu
en einer Art, auf das Verhältnis unterschiedli
cher Spezies zueinander, auf die ökologische
Güte von Habitaten und aufvieles mehr. Dar
über gibt bloßes Addieren keinen Aufschluss.
Der wundersamen, komplexen Welt der Ar
tenvielfalt widmet sich seit mehr als zwei Jahr
zehnten der GEO-Tag der Natur. In diesem
Jahr sind wir der Frage nachgegangen, wie sich
das, was wir essen, auf die Artenvielfalt aus
wirkt (Seite 28).
Die Hauptveranstaltung des Tages haben wir
daher ins Ökodorf Brodowin in Brandenburg
verlegt, eine Ausnahmeregion Deutschlands.
Dort fi ndet sich, was heutzutage wie ein Wider
spruch klingt, nämlich eine artenreiche Agrar
landschaft. Ein guter Ort, um den GEO-Tag der
Natur zu feiern. Ihn hat, wie im vergangenen
Jahr, die Heinz Sielmann Stiftung großzügig ge
fördert, wofür wir uns herzlich bedanken; und
ihn hat erstmals Mirjam Gleßmer organisiert.
Für die promovierte Ozeanografin aus Kiel war
der Schritt ins Binnenland eine neue, unge
wöhnlich erdverbundene Erfahrung -für den
GEO-Tag der Natur ist die neue Projektleiterin
ein großer Gewinn. Wir begrüßen sie herzlich
im Team Artenvielfalt.
Herzlich Ihr
Christoph Kucklick, Chefredakteur
Besuchen Sie uns aufwww.geo.de
oder schreiben Sie uns: [email protected]
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