GEO - 09.2019

(Nancy Kaufman) #1
Snacks zu bringen. Und in der Klinik
für traditionelle chinesische Medizin
am Raffles Place erspürt die sensible
"Emma" per Sensor Verspannungen, um
sie dann mit ihrer aufbeinahe mensch­
liche 38 Grad erwärmten Hand souve­
rän wegzumassieren.
Und gibt es irgendwo sonst auf der
Welt Schulen, in denen neben Mathe,
Chemie und Geschichte auch Robotik
auf dem Lehrplan steht? Oder Luftfahrt?
Schon morgens um kurz nach sieben
kauert in der Ping Yi Secondary School
eine Hundertschaft Mädchen und Jun­
gen in hellblauen, akkurat gebügelten
Hemden sowie tiefblauen Röcken und
Hosen auf dem Basketballfeld, das hier
"Paradeplatz" heißt. Punkt halb acht
schrillt die Glocke, und die Schüler
schnellen hoch, stehen stramm, Augen
geradeaus. Auf dem Podi­
um steigen die Schulfahne
und die rot-weiße National­
flagge mit den fünf Sternen
an den Masten empor, und
die Nationalhymne ertönt:
"Wir, das Volk von Singapur,
marschieren gemeinsam
zum Glück."

N PING YI ZEIGT SICH,
dass Singapur, an der Spit­
ze des PISA-Rankings, kei­
neswegs gewillt ist, diesen
Weg zu Fuß zurückzulegen. Ping Yi ist
eine der sechs Schulen im Stadtstaat,
die, in Partnerschaft mit der Singapu­
rer Behörde für Zivilluftfahrt, das Fach
"Design- und Luftfahrttechnik" im Port­
folio haben.
Bereits im Treppenhaus erzählen
Wandbilder die Geschichte des Fliegens
in Singapur -bis hin zum geplanten
Terminal 5 in Changi, 15 Autominuten
von der Schule entfernt, der die Kapa­
zität des Flughafens auf 135 Millionen
Passagiere im Jahr steigern soll.
"In zehn Jahren wird der Terminal
fertig sein", sagt Vizerektor Leonard
Cheong. "Wir weisen unsere Schüler
schon mal auf die Jobchancen hin, die
dann auf sie warten."
Vorerst aber stürmen sie mit ihnen
den Himmel. Sie fliegen mit ihnen zum
Space Center in Houston, zum Luft-

GEO 09 2019


»Die Elite


will reich


werden.


Nur das


zählt«
DANIELA ALINA PLEWE

Die deutsche Künstlerin
und lmageberaterin
lebt seit 15 Jahren in
Singapur, an der
National University hat
sie jahrelang »creative
thinking« gelehrt

fahrtmuseum im chinesischen Xi'an
oder zum Wartungszentrum einer Flug­
zeugfabrik in Beijing. Sie besuchen mit
ihnen Boeing und den Flugzeugbau­
Zweig von Rolls-Royce, und sie schi­
cken ihre Besten in das Camp "Jugend­
mission zum Mars", das im Jahr 2016 je
50 Schüler aus Singapur, Frankreich
und den USA auf die Reise zum Roten
Planeten vorbereitet hat.
Im "Loft" im zweiten Stock, zwischen
Flugsimulator, 3-D-Drucker und Wind­
kanal, hat Lehrer Johnny Wee, der Spaß­
macher mit dem kecken Mittelscheitel,
einen Satz Drohnen mitgebracht. Per
Beamer wirft er Aufgaben an die Lein­
wand: Feuerbekämpfung, Medikamen-

tenlieferung, Rettung, Überwachung.
Die Mädchen und Jungen zücken ihre
Tablets, legen sie auf die bonbonfarbe­
nen Resopaltische, stecken die Köpfe
zusammen, diskutieren, schätzen Ent­
fernungen ab. Sie geben Befehle ein:
Take-off. Eine Sekunde lang vorwärts.
180 Grad nach rechts. Geschwindigkeit
auf 50 Prozent.
Dann, noch unbeholfen, die ersten
Starts. Fahrig prallen die Drohnen ge­
gen Decken und Wände, taumeln im
Looping, landen weit neben dem Ziel,
sausen summend auf den Lehrer zu,
der sich hastig aus der Fluglinie bringt.
Doch schließlich gelingt die erste "Ret­
tung" -das erfolgreich geborgene Op­
fer ist ein Legostein.
Wer die Lehrer auf die ehrwürdige
asiatische Tradition des Auswendigler­
nens anspricht, erntet nur ein flaues Lä­
cheln. "Seit einigen Jahren haben wir
aufgehört, den Schülern fertige Antwor­
ten zu liefern", sagtRektorAng Chee
Seng. "Wir ermuntern sie, neue Fragen
zu finden. Wir machen sie bereit für
Störungen, offen für Fehler." Und sein
Vize Cheong sekundiert: "Wir bringen
den Kids Innovation bei, Kreativität
und Gestaltungsfreude."
Eine Wende um 180 Grad -von der
konfuzianischen Selbstverleugnung ins
Land des Flows, der gewagten Einfälle,
der verrückten Ideen?
"Kreativität ist hier längst Staatsdok­
trin", sagt Daniela Alina Plewe, eine
Medienkünstlerin und Imageberaterin
aus Deutschland, die seit 15 Jahren in
Singapur lebt. Acht Jahre lang hat sie
an der National University "creative
thinking" gelehrt. Jetzt sitzt sie in der
Nachthitze in der Dachbar des Poller­
ton Bay Hotel, im Klirren der Singa­
pore-Sling-Gläser und dem Chlorduft
des Pools, umschlängelt von Kellnerin­
nen im Catwalk-Schritt.
"Die Elite war hier immer progres­
siver als die Mittelschicht", sagt sie.
"Avantgarde kommt hier nicht von den
Rändern. Sie kommt aus dem Zentrum
der Macht."
Unter ihr liegt schwarz das Wasser
der Marina Bay, umkränzt von biomorph
designten Gebäuden: die riesige Lotus­
blüte desArts and Science Museum, die

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