Die Welt Kompakt - 11.09.2019

(Darren Dugan) #1

E


igentlich ist Fabio
Zgraggen ausgebildeter
Gleitschirmfluglehrer.
Seit fast vier Jahren ret-
tet er jedoch Flüchtlinge aus dem
Mittelmeer – in einem Sportflug-
zeug, das er „Moonbird“ getauft
hat. Der 34-Jährige spürt in See-
not geratene Schlauchboote vor
der libyschen Küste auf und mel-
det sie Rettungsschiffen. Seine
Humanitarian Pilots Initiative
(HPI) sei dazu da, „den Helfern
auf See Überblick und Orientie-

(HPI) sei dazu da, „den Helfern
auf See Überblick und Orientie-

(HPI) sei dazu da, „den Helfern

rung zu geben“, erklärt der
Schweizer, vor dessen Augen sich
regelmäßig humanitäre Ausnah-
mesituationen abspielen. Beson-
ders durch die entschiedene Mi-
grationspolitik in Italien habe
sich die Lage auf dem Mittelmeer
verändert, sagt er im Telefonin-
terview mit WELT. Für Zgraggen
und seine fünf Piloten seien die
Einsätze noch nervenaufreiben-
der geworden.

VON LAURA GAIDA

WELT: Herr Zgraggen, im
Herbst 2015 haben Sie mit
Freunden und Bekannten die
Rettungsinitiative HPI gegrün-
det. Die Flüchtlingskrise hatte
damals ihren Höhepunkt. War
das Zufall?
FABIO ZGRAGGEN:Nein, im Ge-
genteil. Wir haben uns ganz be-
wusst die Frage gestellt: Wollen
wir zuschauen, wie Menschen im
Mittelmeer sterben, oder unsere
Fähigkeiten einsetzen und ihnen
helfen? Ich hatte ein Jahr zuvor
meinen Pilotenschein gemacht,
eigentlich zu meinem privaten
Vergnügen, und sah plötzlich die
Möglichkeit, etwas Sinnvolles da-
mit bewirken zu können. Inzwi-
schen haben wir gemeinsam mit
den Rettern auf See mehr als
20.000 Flüchtlinge rechtzeitig
gefunden. Meine Crew und ich
hätten nie gedacht, dass wir 2019
noch immer sieben Tage die Wo-
che das Mittelmeer absuchen.
Das Ausmaß der Krise war uns
damals nicht klar.

Sie arbeiten eng mit Hilfsorga-
nisationen zusammen, also pri-
vaten Seenotrettungsschiffen.
Mit Sea Watch besteht eine
Operationspartnerschaft – was
ist darunter zu verstehen?
Grundsätzlich sindunsere Auf-
klärungsflüge unabhängig von

den Rettungsschiffen auf dem
Meer und den jeweiligen Organi-
sationen, die dahinterstehen. Das
heißt: Wir arbeiten mit allen zu-
sammen, die Menschenleben ret-
ten können, auch staatliche Küs-
tenwachen. Mit Sea Watch füh-
ren wir insofern eine Partner-
schaft, als dass uns einer ihrer
Experten immer im Flugzeug be-
gleitet. Diese sogenannten„Tac-
cos“ (Tactical Coordinators) be-
dienen den Seefunk und treffen
alle strategischen Entscheidun-
gen. Da sie oft als Einsatzleiter
auf den Schiffen arbeiten, wissen
sie am besten, wo mit neuen Boo-
ten zu rechnen ist und welche
Rolle das Wetter spielt.

Wenn Sie ein Boot auf offenem
Meer gesichtet haben, was pas-
siert dann – wie läuft so eine
Rettungsmission ab?
Als Erstes berichten wir an die
Seenotrettungsleitstelle. Das ist
wie die 112, nur für Menschen, die
auf dem Meer Hilfe brauchen. In
Seenot befindet sich jedes Boot,
das für eine Mittelmeerüberque-
rung nicht gemacht ist – also je-
des Schlauchboot und alle über-
füllten Boote. Da die meisten
Migranten von Libyen auf dem
Weg nach Italien sind, rufen wir
in 99 Prozent der Fälle das Mari-
ne Rescue Coordination Centre
(MRCC) in Rom an. Dessen Auf-
gabe ist es, das nächstgelegene
Schiff anzuweisen, die Menschen
aufzunehmen. Aber auch wir
selbst nehmen über Funk Kon-
takt zu den Schiffen auf, die wir
mit unserem Sportflugzeug
schnell aufspüren können.

UnterMatteo Salvini als Innen-
minister hatte Italien eine äu-
ßert restriktive Migrationspoli-
tik. Rettungsschiffen von
Nicht-Regierungsorganisatio-
nen wird verboten, mit gerette-
ten Migranten an Bord in Ita-
lien anzulegen. Tun sie es doch,
werden sie beschlagnahmt, wie
jüngst die „Eleonore“. Gegen
Kapitäne wird ermittelt. Inwie-
fern bekommen auch Sie die
Auswirkungen dieser Politik
während Ihrer Einsätze zu spü-
ren?
Früher haben Handelsschiffe auf
unsere Funksprüche regelmäßig
reagiert. Nach geltendem See-
notrecht ist nämlich jedes Schiff
in der Nähe verpflichtet, zu hel-

fen – auch Marine-, Kriegs-, oder
Privatschiffe. Inzwischen be-
kommen wir aber vor allem von
Handelsschiffen kaum noch
Rückmeldung, weil sie fürchten,
in Italien für mehrere Wochen
blockiert zu werden. Das hätte
negative wirtschaftliche Folgen
für sie. Hinzu kommt, dass die
italienische Küstenwache kaum
noch Einsätzein internationalen
Gewässern fährt. Auch die EU
hat ihre Rettungsmission Sophia
zurückgefahren.Es gibt also in-
zwischen deutlich weniger Ret-
tungsmöglichkeiten auf See.

Was tun Sie, wenn sich ein
Schiff nicht zurückmeldet oder
keines in Sicht ist? Das Meer ist
groß: Das Gebiet, das Sie vor
der libyschen Küste abfliegen,
umfasst mehr als 17.500 Qua-
dratkilometer.
Innerhalb einer Stunde können
wir um die 1000 km^2 absuchen.
Meist finden wir deshalb sogar
mehrere Schiffe, die wir anfun-
ken. Aber ja, es kann dauern.
Meldet sich das nächstgelegene
nicht zurück, setzen wir ein
„Mayday Relay“ ab. Das heißt,
wir geben den Notruf an alle
Schiffe weiter. Das Problem ist,

Mehr als 20.000 Menschen hat Fabio


Zgraggen gerettet. Der Schweizer Pilot


ortet Migranten auf dem Mittelmeer


und funkt Schiffe für Hilfe an


30 PANORAMA DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT MITTWOCH,11.SEPTEMBER2019


IRAK


Dutzende Tote


bei Massenpanik


Bei einer Massenpanik während
des schiitischen Aschura-Festes
in der irakischen Stadt Kerbela
sind mindestens 31 Menschen
ums Leben gekommen. 100
Menschen seien verletzt wor-
den, meldete die irakische
Nachrichtenagentur INA unter
Berufung auf das Gesundheits-
ministerium. Die genaue Ur-
sache des Unglücks war unklar.
Kerbela südlich der Hauptstadt
Bagdad ist Zentrum des schii-
tischen Aschura-Festes. Dort
ziehen jedes Jahr riesige Men-
schenmassen durch die Straßen.
Am Aschura-Fest erinnern die
Schiiten an den Tod des Imams
Hussein, eines Enkels des Pro-
pheten Mohammed.


DÜSSELDORF


Patient stirbt bei


Brand in Klinik


Bei einem Feuer in einem Düs-
seldorfer Krankenhaus ist ein
77-jähriger Patient an den Fol-
gen einer Rauchgasvergiftung
gestorben. Durch den Brand im
Marienhospital am späten Mon-
tagabend erlitten vier Men-
schen nach Feuerwehrangaben
lebensgefährliche Verletzungen.
Kripo und Staatsanwaltschaft
nahmen Ermittlungen zur
Brandursache auf und schalte-
ten einen Sachverständigen ein.
Erkenntnisse zur Brandent-
stehung hatten die Behörden
zunächst nicht. Das Feuer war
in einem Patientenzimmer der
internistischen Station im zwei-
ten Stock ausgebrochen, wie die
Feuerwehr berichtete. Die vier
lebensgefährlich Verletzten
trugen ebenfalls Rauchgasver-
giftungen davon. Die Feuerwehr


war mit rund 180 Einsatzkräf-
ten vor Ort.

JAPAN

Radioaktives Wasser


ins Meer leiten?


Acht Jahre nach der Reaktor-
katastrophe in Fukushima er-
wägt der Energiekonzern Tokyo
Electric Power (Tepco), radio-
aktiv verseuchtes Wasser aus
dem zerstörten Kernkraftwerk
in den Ozean zu leiten. Tepco
habe bald keine Lagerkapazitä-
ten mehr für das kontaminierte
Wasser aus den Kühlrohren, mit
dem das Schmelzen der Brenn-
stoffkerne seit dem Tsunami im
Jahr 2011 verhindert wird, er-
klärte Umweltminister Yoshiaki
Harada. „Die einzige Möglich-
keit wird sein, das Wasser ins
Meer abzuleiten und zu ver-
dünnen.“ Die gesamte Regie-
rung in Tokio werde das dis-
kutieren. Japans Regierung
wartet derzeit auf den Bericht
eines Expertenteams.

MORDPROZESS UM SOPHIA

Staatsanwaltschaft
fordert lebenslang

Im Mordprozess um die er-
schlagene Tramperin Sophia L.
hat die Staatsanwaltschaft für
eine lebenslange Haftstrafe des
angeklagten Fernfahrers wegen
Mordes und gefährlicher Kör-
perverletzung plädiert. Der
Anwalt der Eltern schloss sich
vor dem Landgericht Bayreuth
der Forderung an. Er wies darü-
ber hinaus auf eine besondere
Schwere der Schuld hin. Sophia
L. hatte vor gut einem Jahr von
Leipzig in Richtung Nürnberg
trampen wollen. Der Anklage
zufolge hat der Fernfahrer die
Tramperin ermordet, um eine
sexuelle Straftat zu verdecken.

KOMPAKT


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