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NZZamSonntag8.September 2019
Schweiz
MARCO ZANONI
Mit dem Auto auf Einkaufstour: ZweiFrauen
beim Einladenvon neu gekauften Möbeln
und Accessoires.
(Lyssach,6. September2019)
A
lles zusammen? Hm, ichwürde sa-
gen... vielleicht 35000 Kilometer.»
Noch hängen Wolken über der Män-
ziwilegg, derSamstagmorgen ist
frisch.Auf dem Parkplatz haben sich erst
wenigeAusflügler eingefunden, unter ihnen
eineMutter mit zwei Kindern, die nun schät-
zen soll,wie viel Kilometer einSchweizer
insgesamt proJahr zurücklegt.«Sicherwer-
den es immer mehr», sagt sie noch.
In derTat: DieSchweiz wird stets mobiler.
Mittlerweile, soviel sei schonverraten, legt
der Durchschnittsschweizer jährlich mehr als
eine halbe Erdumrundung zurück.Doch ein
Grossteil dieserMobilität spielt sich im Klei-
nen ab,wie bei derMutter auf demAussichts-
hügel beiBern. Sie nutzt denSamstagmorgen,
um Hund und Kindern etwasAuslauf zuge-
ben und danach imBeizli einen Kaffee zu trin-
ken. Das ergibt eineAutofahrt von 16 Kilo-
metern, einen Spaziergangvon zwei Kilo-
metern – und insgesamt einenAusflug nach
typisch helvetischemMobilitätsmuster: Man
bewegt sich mehr im Alltag als aufReisen,
mehr in derFreizeit als für die Arbeit, mehr
am Samstag als unter derWoche, häufiger im
Auto als im öffentlichenVerkehr undgerne
zum Spazieren, Essen oderFreunde treffen.
Wo und wie sich dasVolk bewegt, erhebt
das Bundesamt für Statistik alle fünfJahre
in einem «MikrozensusMobilität». Die letzte
Ausgabe datiertvon 2015 undzeigt Folgendes:
Allein im Inland legt derSchweizer proTag
36,8 Kilometer zurück und ist dafür andert-
halb Stunden unterwegs. Mit16,3 Kilometern
entfällt – fürviele überraschend – der grösste
Teil auf dieFreizeit. Und dortwiederum ist
der Schweizer ehergemütlich unterwegs. Am
häufigsten wählt er «nicht sportliche Aktivitä-
ten», das heisst er spaziert, sitzt im Park oder
in derBadi. An zweiter StellefolgenBesuche
im Restaurant,vor Treffen mitVerwandten
oderBekannten und dem aktiven Sport. Das
Wandern rangiert als separate Kategorie etwas
weit er hinten, dochkeine Sorge: Für den
Volkssport schlechthinwird immer noch am
meisten Zeit aufgewendet.
«Hm, schwierig...Vielleicht 100 000 Kilo-
meter?» In der Check-in-Halle 3 am Flughafen
Zürich herrscht auch an diesem ganz norma-
len Dienstagmorgen konzentrierteBetrieb-
samkeit.22 Flugzeuge heben in der nächsten
Stunde in alle Himmelsrichtungen ab, eswim-
meltvon Rucksäcken, Kinderwagen undRoll-
koffern in allenFarben und Grössen.Auch der
junge Mann und seineFreundin ziehen zwei
Wo fahren die denn alle hin?
dieser Exemplare hinter sich her.Vor ihnen:
eineWoche Badeferien auf Mallorca, die Uni
beginnt ja erst in einigenWochen.
Was das junge Paar tut, erklärt die mit Ab-
stand grössteVeränderung in derMobilität
der letztenJahre. Noch 2010 flogen die
Schweizer imSchnitt 5200 Kilometerweit ,
2015 waren es schonfast 9000 Kilometer – ein
Plusvon sa tten 66Prozent. Meist wird das
Flugzeug bestiegen, um in dieFerien zurei-
sen,wobei die beliebtesten Ziele gar nicht so
weit weg sind. Angefl ogenwird am häufigsten
London,vor Paris, Amsterdam undBerlin –
Städte also, die auch anders zu erreichen
wären.Genau darum möchten viele Politiker
solche Flüge nun möglichst aus der Statistik
tilgen, mit Flugticketabgaben oder anderen
Vorschriften. Ob dasgelingen kann, ist indes
umstritten. AndreasWittmer,Aviatik-Experte
an der Uni St. Gallen,rechnet jedenfalls auch
in denkommendenJahren beim Luftverkehr
mit einemWachstumvon 2 bis 3Prozent.
DieNöte der Pendler
«Vielleicht 20 proTag, mal 300Tage – 60 00
Kilometer?»Der Geschäftsmann mit Akten-
koffer wartetwie fast jeden Abend im Zürcher
Untergrund auf den Zug nachBern, alswieder
einmal desPendlers grössterFeind zuschlägt:
das Unerwartete.Der Zugwird kurzfristig auf
ein anderes Gleisverlegt, ist aus unerfind-
lichen Gründenviel kürzer als sonst und
daher überfüllt: In der 2. Klasse gibt eskein
Durchkommen mehr, und auch in der 1. ste-
hen Passagiere oder sitzen auf der Treppe.
Stosszeit,volle Züge,verstopfte Strassen –
es istwohl das Bild, an dasviele beim Stich-
wort steigende Mobilität zuerst denken.
Schliesslichwerden wegen dieserVerkehrs-
spitzen amMorgen und Abend Strasse und
Schiene laufend ausgebaut. Dabeigeht bloss
knapp einViertel des täglichenVerkehrs auf
den Arbeitsweg zurück.8,9 Kilometer sind
es pro Einwohner, deutlich mehr allerdings,
wenn man nur diePendler betrachtet. Sie
legen täglich 30 Kilometer zurück, sind dafür
62 Minuten unterwegs – und nehmenver-
gleichsweise häufig den Zug. Immerhin 27
Prozent der Arbeitswege übernimmt dieBahn,
weitmehr als etwa in derFreizeit. Die Gründe
für dieseWahl lauten: Einfachheit, man-
gelnde Alternative, eine kürzereReisezeit und
der Besitz eines Abos.57 Prozent der Bevöl-
kerung über16 Jahre besitzen heute einÖV-
Abonnement, jeder 10. ein GA.
Der Blick durch denWagen offenbart noch
einenweit eren Grund: Im Zug kann man
arbeiten. Eswird telefoniert,getippt undge-
lesen, nurwenige dösen oder diskutieren, am
engagiertesten zwei SBB-Angestellte. Siege-
hören zu den über 100 000ÖV-Mitarbeitern,
die das GA gratis oder mit Rabatt bekommen,
von denen die SBB dafür aber erwartenwür-
de, dass sie ihren Platz bei Stossverkehrfrei-
geben. Umgekehrt: Wieso solltengerade sie
nun aufstehen,wo doch einige Abteileweit er
auch die SBB-Präsidentin sitzen bleibt?So
sieht man den beiden immerhin nicht an, was
Ökonomenfeststellen:Langes Pendeln macht
unglücklich.Denn dieBetroffenen müssen
sich daheim nicht nurvom Job, sondern auch
vom Arbeitsweg erholen. Es bleibtweniger
Zeit, um abends noch etwas zu unternehmen.
Unglücklich?So würde es derGeschäfts-
mann nichtformulieren. Aber klar, stressig sei
die Pendlerei schon. Dafür kann er inBern
Die Schweizerlegenimmergrössere Distanzenzurü ck.Anders, alsvi eledenken,tunsiediesvorallem
inderFreizeitundfürGemütlicheswieSpaziergänge,Restaurantbesuch eundShopping.Von Daniel Friedli
wohnen bleiben, dafür bringe er gerne Opfer.
Und immerhin: Trotz Grossandranggelingt,
was zwischen Zürich undBern derzeit etwas
Glückssache ist:Der Zugkommt pünktlich an.
«Ou, da muss ich erst überlegen... 30000
Kilometer?» Es istFreitagabend, Abendver-
kauf bei Ikea inLyssach (BE). Das Parkhaus ist
halbvoll, Einkaufswägeli scheppern über den
Boden, aus demLautsprecher klingt sanfter
Pop. Die junge Frau hat zusammen mit ihrer
Mutter und der kleinenTochter eingekauft
und verstaut nun ihreBeute imKofferraum.
Shopping macht Menschen mobil
NachFreizeit und Arbeit ist das Einkaufen der
dritthäufigste Grund, der dieSchweizer inBe-
wegung bringt. Und sie nehmen dafür typi-
scherweise das immer noch beliebtesteVer-
kehrsmittel imLand, dasAuto. 23,8 Kilometer
legen dieSchweizer damit täglich zurück,ge-
rade soviel, wie dieFrauen schon hinter sich
haben. Sie sindvon Bern hergefahren,weil ihr
Einkauf Platz braucht und dieHeimlieferung
zu teuer gewesen wäre. Und sie haben Glück
gehabt: Nur einige Minuten sind sie im Stau
gestanden, was bei jährlich 25400 Staustun-
den auf derAutobahn nicht selbstverständlich
ist. Die häufigeVerkehrsüberlastung ist auch
ein Grund dafür,wieso dasAuto punkto
Durchschnittstempoweitzurückgefallen ist.
Die Bahn wird immer schneller und schafft
heute62 Kilometer pro Stunde – dasAuto hin-
gegen stagniert seitJahren bei nicht ganz 40.
Gewähltwird es, weil esvielfach die be-
quemsteLösung ist, und häufig für kürzere
Strecken. Die mittlereAutofahrt geht 13,
Kilometerweit , und gut ein Drittel allerFahr-
ten endet schon nachweniger als drei Kilo-
metern. Das ist der Grund,weshalbVerkehrs-
experten im E-Bike nochviel Potenzial sehen.
«24849 Kilometer.»So lautet die Antwort
der Statistik auf die eingangsgestellteFrage,
und das heisst: Alles in allem legt jeder
Schweizer jährlich die Distanzvon Zürich
nach Hawaii undwiederreto ur zurück. Allein
in den letzten fünfJahren ist dieserWert um
21 Prozent gestiegen, wasviele derBefragten
dann doch erstaunlich finden. DieseReaktion
sowie die grosse Spannweit e derSchätzungen
deuten darauf hin, dass dieMobilität fürviele
Schweizer so selbstverständlich ist, dass sie
sich der Dimensionen kaum mehr bewusst
sind – und dass ein guterTeil dieserMobilität
stattfindet, ohne dass man es richtig wahr-
nimmt.Vielleicht mag dies ja ein kleiner Trost
sein im nächsten Stau.
Spezial
Mobilität
Auto 10 371 km
8986
3499
Flugzeug
Eisenbahn
Zu Fuss 459
Velo 301
Motorrad 217 Total 24849 km
Wie viele Kilometer die Schweizer pro Jahr mit welchemVerkehrsmittel zurücklegen
Einmal nachHawaii undzurück
Quelle: Bundesamt für Statistik
Die Schweizer
legen jährli ch
mehr alseine
halbeErd-
umrundung
zurück. Doch
ein Grossteil
dieserMobilität
spielt sich im
Kleinen ab.