18
NZZamSonntag8. September 2019
HintergrundKriminalität
DievergessenenToten
Im Lauf der Jahre sind inZürich zahlreiche Fr auen verschwunden. Manche wurden
tot aufgefunden, andere sind bis heute vermisst. Vom Täter fehlt jede Spur.Solc he
ungelösten Fälle drohen inder Schweiz vergessen zu gehen.Von Christine Brand
D
ie Scheinwerfer dervorbei-
fahrendenAutos zerschnei-
den dasSchwarz der Nacht.
Heidi K. steht am Strassen-
rand des Zürcher Sihlquais.
SieistaufEntzug,siebraucht
Geld für Drogen, dochkeiner
hältan.Die36-Jährigewartetaufihrenletzten
Freier – und auf sie wartet derTod.
EineKollegin erinnert sich später, dass
sie ungeduldig war, sich beklagte über das
schlechte Geschäft.Dochdannfindetsiedoch
nocheinenKunden.Esistzirka1Uhr30inder
Nacht auf den9. Juni 2004, alsHeidi K. das
letzteMalgesehenwird.Die Kolleginsagtaus,
sie sei in einAuto gestiegen, eine andere
meint,einLastwagenhabesiemitgenommen.
Danachverliert sich ihre Spur. Noch heute,
15 Jahre später, ist Heidi K.sVermissten-
anzeige auf derWebsite der Kantonspolizei
Zürich aufgeschaltet.
InderneuenAudioreportage«Sihlquai»be-
gibt sich die «NZZ amSonntag» auf Spuren-
suche in dem ungelöstenVerbrechen. Zuerst
geht es nur um diese eineVermisstmeldung –
doch dann nimmt derFall un geahnte Dimen-
sionen an.Während derRecherchenzeigte
sich: Heidi K. ist nicht die einzige Drogenpro-
stituierte, derenSchicksal ungeklärt ist. Es
geht nicht um einen Einzelfall, sondern um
eine Mordserie. Die Liste der Opfer ist lang:
Zwischen1986und2007verschwandenzehn
Frauen, die für Drogen auf dem Zürcher Sihl-
quai anschafften – ohne dass die Öffentlich-
keit Notizdavonnahm.DenndieOpferhaben
keine Lobby: Es sind Drogenabhängige,Pros-
tituierte,Frauen der unterstengesellschaft-
lichenStufe.SiebenFrauenwerd enspätertot
aufgefunden,dreibleibenvermisst.Diemeis-
ten Fälle konnten niegelöst werd en. Der oder
die Täter sind bis heute auffreiemFuss.
«Es ist beides möglich: Dass es mehrere
TätersindoderdasseinTätermehrereFrauen
umgebracht hat», erklärt Hans-PeterMeister.
Der Kriminalanalyst betreut die Datenbank
VICLAS,mitderenHilfeSeriendelikteerkannt
werd en sollen.Meister schliesst nicht aus,
dassesschweizweitsogarnochweit ereunge-
lösteTötungsdelikte anProstituiertengeben
könnte, die in dasMuster derTodesserie am
Sihlquai passen –wenn man in anderen Kan-
tonen danachrecherchierenwürde.
Wird einMordnichtgeklärt,leidenmanche
Angehörige einLeben lang.Wie zumBeispiel
Marco Hauenstein. Er war dreiJahre alt, als
seineMutter verschwand. Mit19 machte er
sich mit der Hilfe einesDetektivs auf die Su-
che nach ihr – eine Suche, die er in der«Sihl-
quai-Reportage»als«Sucht»beschreibt.Auch
manchen Ermittler lassen ungelösteDelikte
nicht mehr los. «Fälle, die man nicht klären
kann, bleiben präsent», sagt AlainLoretan,
stellvertretender Chef des DienstesLeib/Le-
ben der Kantonspolizei Zürich.«Sie bleiben
im Kopf hängen, weil man immer malwieder
daran zurückdenkt.»
Die Fälle derverschwundenen undgetöte-
ten Frauenvom Sihlquai sind nur einigevon
zahlreichen ungeklärten, schweren Verbre-
cheninderSchweiz.ZwaristdieAufklärungs-
quote beiTötungsdelikten mit über 90Pro-
zent so hochwie in kaum einem anderenBe-
reich, da sichTäter und Opfer in den meisten
Fällen zuvorgekannt haben.So konnten letz-
tes Jahr 47 von ins gesamt 50vollendeten
Tötungsdeliktengeklärtwerd en. Trotzdem
kommen jedesJahr mehrereFälle hinzu, die
nichtgelöst werd en können. Man nennt sie
Cold Cases–kalteFälle,indenendieErmittler
auch einJahr, zweiJahre oder zwanzigJahre
nach demVerbrechenkeinen Täter finden.
Manche ungeklärteMorde haben sich in
das kollektive Gedächtnis derSchweiz einge-
brannt – dieverschwundenen Kinder in den
achtzigerJahrenzumBeispiel,vondenenetli-
cheFälleniegelöstwurden,oderderFallSee-
wen, bei dem1976 in einem kleinenWochen-
endhäuschenimKantonSolothurnfünfMen-
sc hen erschossenwurden. Auch der Kristall-
höhlen-Mord, bei dem 1982 zwei Mädchen
währendeinerVelotourinderOstschweizver-
schwandenundspäterbeidenHöhlentotauf-
gefundenwurden, beschäftigt noch heute.
Akte zu, Fall ungelöst
Nebst den prominenten Fällen finden sich in
der Kriminalgeschichte unseresLandes zahl-
reiche weit ere Tötungsdelikte, in denen die
Täterschaft ungeschoren davong ekommen
ist.ZumBeispieldieTötungdesMetzgermeis-
ters ausFreienbach, dessenLeiche auf dem
Areal einer Bauunternehmung gefunden
wurde; siewies Schussverletzungen auf und
wurde verbrannt. Oder dasunerklärlicheVer-
brechenvom Zürcher Bucheggplatz, als an
einem Novemberabend ein Mann in seinem
Auto über die Kreuzung fuhr undvon einer
Kugel tödlichgetroffenwurde. Der Mordan
YaseminY., einer 28-jährigen zweifachen
Mutter; siewurde in Zürich in einemTank-
stellen-Laden erstochen. DasRentnerpaar
Georges S. undGerda K.:getöte t in ihrem
HausimbernischenLaupen.GertrudK.,81:in
ihrerWohnung in Luzern mit einemJapan-
messertödlichverletzt. Michi,17: vor einem
Zürcher Klub niedergestochen. HardyJ.: in
Burgdorf zuTode geprügelt.Motiv undTäter
sind in allenFällen bis heute unbekannt. Die
Liste vonun gesühntenTötungsdeliktenliesse
sich beliebigfortführen.
Was passiert mit einemFall, wenn jede
Spur erkaltet und nirgendwo mehr hinzufüh-
ren scheint?Wenn die Ermittler einfach nicht
mehrweit erkommen?Wann geben sie auf?
«NachAbschlussdererfolglosenErmittlungen
wird der ungelöste Fall in derRegel noch ein-
mal von einem unabhängigenSachbearbeiter
der Kriminalanalyse untersucht», sagtFahn-
derAlainLoretan.InFällen,beideneneszwar
Hinweise, Verdachtsmomente oder Mutmas-
sungengab,aberkeineBeweiseerbrachtwer-
den konnten,erhalteeinneuesErmittlerteam
den Auftrag, denFall noch einmal zu beurtei-
len. «Es gibt aber auchFälle, die spurenarm
sind,dasheisst,dasseswederfaktischeSach-
spuren noch Hinweise im Opferumfeld gibt»,
sagt Loretan. «DieseFälle ruhen dann, bis
neue Hinweise bei uns eingehen.»
Wenn nicht dervielzitierteKommissar Zu-
fall den Ermittlern irgendwann einen neuen
Ansatz zuspielt, bleiben die Aktenvon soge-
nannten ColdCases in derSchweiz meistens
jahrelang oder für immergeschlossen. Nicht
zuletztausKapazitätsgründen:Fürdiekalten
Fällesinddiegleichen Abteilungenzuständig
wie für die aktuellenGewaltverbrechen, die
stets Vorrang haben. Danebenfehlt es an Zeit
undGeld für dieaufwendigenErmittlungenin
Cold Cases,derenErfolgsaussichtenoft gering
sind. Spezialeinheiten, die sich ausschliess-
lich um die alten, ungelöstenFälle kümmern,
existieren in derSchweiz nicht.
AnderssiehtesinDeutschlandaus.Inletz-
terZeitmehrensichdortdieMeld ungen,dass
schwere Delikte nach zwölf, zwanzig, sogar
vierzigJahren doch nochgeklärtwerd en
konnten. Denn in etlichen Bundesländern
wurden spezielle Cold-Case-Einheiten ge-
gründet, die erste 2016 in Hamburg.«Sie
beschäftigt sich ausschliesslich mit ausge-
wählten, bisher ungelöstenversuchten und
vollendetenTötungsdeliktenwie auch mit
Vermisstenfällen, bei denenwir von einem
Gewaltverbrechenausgehen»,sagtUlfWund-
rack,von derPolizeipressestelle Hamburg.
Die Einheit stehe ausserhalb derMordkom-
mission, damit dieBeamten frei seienvom
Druck der aktuellenVerfahren. In Düsseldorf
baut dasLandeskriminalamt eine Datenbank
mit 900 altenFällen auf, jenes inWiesbaden
entwickelt Empfehlungen dafür,wie Cold
Cases neu aufgerolltwerd en können.
Ein Kalender fürHäftlinge
Auch inÖsterreich gibt es ein Cold-Case-Ma-
nagement. «Das Ermittlerteam ist dem Bun-
deskriminalamtangegliedertundfürKapital-
verbrechen in ganzÖsterreich zuständig, die
nichtgeklärt werd en konnten», sagtVinzenz
Kriegs-Au, Pressesprecher des Bundeskrimi-
nalamts. EineVorrei terrolle in Europa haben
dieNiederlandeeingenommenmitzehnCold-
Case-Einheiten mit bis zu 20 Experten. Aart
Garssen, der diesen Einheiten vorsteht, greift
mitunter zu besonderenMethoden. Nach
amerikanischemVorbild hat er in den nieder-
ländischenGefängnissenCold-Case-Kalender
andieInsassenverteilt:JedeWocheeinande-
rer Fall, mitDetails zurTat und Bildern der
Opfer – und mit derfreundlichen Bitte um
Mithilfe.«VielleichthaltenSieschonlange In-
formationenverborgen undwollen dies nicht
länger tun», steht auf dem Kalender, inHol-
ländisch, Englisch,Russisch, Arabisch und
Spanisch.DieAuflagezählt48000Stück.Für
nützliche Informationen gibt es eineBeloh-
nungvon bis zu 20000 Euro. Im erstenJahr
gingen daraufhin78 Hinweise ein,32 davon
seien «sehr brauchbar»gewe sen. In 9Fällen
wurden die Ermittlungen wieder aufgenom-
men. DieIdee dahinter ist simpel:Gefangene
wissen viel – weil sie viel Zeit haben und sich
austauschen.
SowasistinderSchweizkeinThema.Hier-
zulandedrohenalteFällevergessenzugehen.
Für den Strafrechtsprofessor Marcel Niggli
geht esumeinenGrundsatzentscheid:«Wenn
wir beschliessen:Wir wollen kalteFälle nicht
Die Audio-Serie «Sihlquai» der «NZZ am Sonntag»rollt eine w
«Fälle, die man nicht
klärenkann, bleiben
präsent», sagtFahn-
der Alain Loretan.
DieExperten
«Wollen wirkalte
Fälle nichtkalt wer-
den lassen, brau-
chen wir Spezialein-
heiten», meint Straf-
rechtsprofessor
Marcel Niggli.
Gesundwerden, gesund bleiben,
gelassenaltern.
Sonnmatt tutgut.