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NZZamSonntag8. September 2019
Hintergrund
Allein
aufweiter
Flur
Wie kommt manvon Zürich nach Bern? Mit
dem Auto dauertes anderthalbStunden, mit
dem Zug 52 Minuten. Unser Autor ging zu Fuss.
Er brauchte sieben Tage– und erfuhr dabei,
was Zeit bedeutet.Von Jost Auf der Maur
D
as hätte etwasBöses geben
können.» DiePodologinver-
bindet denrechten Fuss.«Wo
haben Sie denn das aufge-
lesen?»Zwischen Zürich und
Bern.«ZuFuss?» Ja, in sieben
Tagen, gemächlich also.Aber
eben, die norwegischenSchuhe, brandneu.
Die Podologinschüttelt denKopf. «Züri–Bärn,
da geht doch sonst niemand wandern, oder?»
Das stimmt. Dawird ge fahren. DieSchweiz ist
ein Pendlerland: An jedemWerktagverlassen
2,8 MillionenMenschen ihreWohngemeinde,
um an ihren Arbeitsplatz zugelangen. Zu-
meist auf Rädern, zumeist aufPneus. Ein irr-
witzigesGewusel.
Ich wollte diesen berüchtigtenPendlerströ-
men meineLangsamkeit entgegensetzen,
mein täglichesFusswerk.Auf all denWegen
über Land von Zürich nachBern habe ich acht
wanderndeMenschengezählt. DasWander-
land Schweiz ist einMythos.Ich war sieben
Tage lang mit mir unterwegs. Zweimal er-
wischte mich derFotograf, doch der arbeitet
sanft und schweigsam. Die Zeit, meine Zeit,
begann sich allmählich zuverändern, sie
wurde gleichsam duktil.Schliesslich ging ich
ohne den helvetischenTakt,immer pünktlich
sein zu müssen, durch dasvoralpine Mittel-
land, auf einer altenRoute, Schritt für Schritt
von der Limmat über dieReuss an die Aare,
hintenherum sozusagen, mit Rast inHer-
metschwil, Muri, Sursee,Willisau,Huttwil,
Lützelflüh.La Suisse profonde.
Linkerhand schimmernd der Alpenfirn so
fern. Reste ursprünglicher Natur. Die Hälfte
meinerWanderwegewar mit Asphaltversie-
gelt. Einmal ist mir ein Gasthof zum Kauf an-
gebotenword en. Allen, mit denen ich insGe-
spräch kam, habe ich dieFrage gestellt:
«Haben Siegenug Zeit in IhremLeben?»
Kirschlorbeer undRobot-Mäher
An einem himmelblauenMontag imAugust
brach ich auf, im Hauptbahnhof Zürich, und
stieg ins Tram der Linie 3 nach Albisrieden.
Ein Bekannter, ein Schachspieler, der das un-
erbittliche Ende derBedenkzeitkennt, hatte
miramselbenMorgennochgesagt:«WirEuro-
päer haben die Uhr, die Afrikaner haben die
Zeit.» Eine Uhr hatte ich keine dabei. Im Tram
hing Eigenwerbung: «In Zürich bleibt nicht
viel Zeit, bisdasnächste Tramkommt.» Die al-
te Kirchein Albisriedenzeigte einViertel nach
zehn. Der Marschplanstimmte noch. Dichtge-
setztegelbe Wanderwegweiser, ich brauchte
die Landkarte nicht hervorzukramen für die
erstenSchritte meinerTour. AmDorfrand
eine letzteAussicht über unsere kleine Gross-
stadt, dannverschluckte mich der Zürcher
Forst. In einemerstenSchweissausbruch ging
es hinauf durchs Grün des Mischwalds nach
Uitikon. Hinunter ins Reppischtal, durch Bir-
mensdorf,wieder überraschend steil nach
Berikon. Dasflache Mittelland ist nichtflach.
Das meinenvielleichtPendler.
Die Hügelflanke zwischenBerikon und
BremgartenAG ist verbaut,verbraucht für die
Hüsli-Schweiz. Das Paradies mit Kirschlor-
beerhecken,Robot-Rasenmähern und Grill-
häuschen ausWaschbeton.Ich kletterte hinab
ins Reusstal, liess Bremgartenrechts liegen
und steuerte zur Emaus-Kapelle, durchquerte
den«Zopfhau» undschritt nebendemträgda-
hinziehenden Fluss nach Süden. Im «Domini-
loch»,wo der Schatz einesrömischenLegio-
närs vergraben liegt, betrat ich diefast ein-
hundertMeter lan ge Holzbrücke.
Fünf Armeeangehörige mitVelos (offenbar
ein versprengterRestbestand der legendären
Militär-Radfahrer) machten hier imSchutz
der gedeckten Brücke Pause. Und jetztwurde
das Etappenziel sichtbar: dieBenediktinerin-
nen-Abtei St.Martin inHermetschwil, weiss
leuchtend über derReuss. Marschzeit: 4½
Stunden. In dieser Zeit fährt ein Interc ity von
Rorschach zum FlughafenGenf. Täglich stei-
gen in derSchweiz 1,3 MillionenMenschen in
einen Zug.Ich betätigte das alteLäutwerk an
der Klosterpforte.
Frau Äbtissin Angelika ist nicht höflich, sie
ist wahrhaftfreundlich und warm und für-
sorglich. Ein in Klosterschulenvorsichtigge-
word ener Wandersmann kann das einschät-
zen. Und jedeSchweizer Anti-Aging-Klinik
müsste sich sofort nach demGeheimnis der
Äbtissin erkundigen – die Zeit hatkeine Spur
hinterlassen auf ihremTeint. Aberdiese ober-
flächlicheBeobachtunggetraute ich mich
nicht zu äussern.Ich hörte ihr in der prächti-
gen Abteistube lieber zu: «Die Zeit», sagte sie,
«ist einGeschenkGottes, und derTag hat für
alle 24 Stunden.Jeder Tag ist ein neuer An-
fang, und jederAugenblick ist heilig.Wir hier
streben nach der Unvergänglichkeit – dieBe-
hauptung, Zeit seiGeld, gehört nicht dazu.
Wir suchen dieBalance, und die stellt sich ein
durchRegelmässigkeit,wir leben im Rhyth-
mus von Arbeit,Gebet undLesung.»
Das Abendessenwurde um17.55 Uhr im
Gästezimmer serviert, für mich, für Pater
Lukas und seineBetreuerin undGefährtin
Frau Zimmermann.Tomatensalat,Rührei auf
Brot, Klostertee, tadellos. Pater Lukas war da,
weil er am nächstenMorgen dieMesse lesen
würde. Das ist Männersache.Frau Zimmer-
mann hatte den betagten Pater immerhinvon
Sarnen hierher chauffieren dürfen.
Schlafen im Klosterzimmer
Ich nächtigte im Zimmer «HeiligeGertrud».
Auf dem Tischfrische Blumen aus dem Klos-
tergarten. Draussen fiel ein schwerer Regen,
er übertönte das Plätschern des Springbrun-
nens im Klosterhof. In meinemBett hatte in
der Nacht zuvor Macram Max Gassisgeschla-
fen, derBischof des Sudan.Ein Mann desFrie-
dens, stark engagiert für einegewaltfreie
Lösung im derzeitigenKonflikt am Nil. Die
Turmuhr des Klosters schlug silberhell und
kündetevon demGeschenk, das die Zeit doch
ist. Sie tat es zu jederViertelstunde.Ich stieg
Zitat 4/18, 14pt 6 Zeilen
und hiernochund
wiederweiter hier dann
wiederholt und hier
Blindtext wobeinoch
und wieder hier dann
FOTOS: ALESSANDRO DELLABELLA
Einsamer Wanderer: Jost Auf der Maur zwischen Willisau und Huttwil.
ins Bett, mit Ohropax. Da war es noch nicht
einmal 21 Uhr.
ZünftigerLandregen am nächstenTag. Ins
Gästebuch des Klosters hatte ich etwas gross-
spuriggeschrieben, ich sei auf der Suche nach
der verlorenen Zeit. Unter derPelerine ging
ich flussaufwärts derReuss entlang zum
Flachsee, einemVogelrefugium. Silberreiher,
Haubentaucher, Flussregenpfeifer. Dichte
Schilf- und Süssgras-Gürtel.Aber dann begeg-
nete mir ein Neozoon, einweisserHöcker-
schwan, und ich horchte in mich hinein, ob
meine innereSVP mich aufrufe, hinzugehen
und diesenfremdenVogel eventuell mit der
stählernen Spitze desWanderstocks...
Ich hörte aber nichts undzog entspannt
weit er. Eine halbeWegstunde später aber, im
Rottenschwiler Moos, traf ich auf zwei Mit-
arbeiter des Kantons Aargau, die sich im
Kampf befandengege n dieGoldrute, einen
nordamerikanischen Neophyten. Wie der
Höckerschwan eigentlich hübsch anzusehen,
für meineGeneration irgendwie heimisch.
Der halbeLastwagen war schongefüllt mit
den Fremdlingen. Ich ha tte die Kapuze zu-
rückgeschlagen, der Stauwärmewege n, aber
während nunRegenwasser im Kragenbereich
einsickerte und bald dieRückenpartie errei-
chen sollte, entstand ein kleinerSatz: «Zeit
macht heimisch.»
In Althäusern stellte ich mich unter das
weit auskragendeDach einesStalls.Der Land-
AG Zürich
ZH
LU
BE
Bern
Muri
Hermetschwil
Beromünster
Huttwil Willisau
Lützelflüh
10 km
In siebenTagen durchs Mittelland
Zu Fuss von Zürich nachBern
Spezial
Mobilität