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regen hatte sich zu einem subtropischenWol-
kenbruch entwickelt.Ich blieb nicht allein.
EineFrau mittleren Alters samtHundflüch-
tetesich hierher. EinWanderwettergespräch
zwischen Zürich undBern. Dann meineFrage
nach der Zeit. Sie begann sofort zuweinen. Sie
könne dieseFrage nicht beantworten. Sie
sagte, Ihr Mann seivor Monaten undviel zu
früh gestorben, sie hättenviel zuwenig Zeit
gehabt miteinander. Sie aber habe jetztviel zu
viel Zeit. «Esgeht nicht.» Sie streichelte den
kraushaarigenHund, sieweinte. Ich sagte,
hilflos, ich hätte dasBedürfnis, sie zu um-
armen.Wir, zweiFremde, hielten unsfest
unter dem schützenden Dach. In diesem
Augenblick gab eskeine Zeit.
InMuri durfte ich im Knechtenzimmer
übernachten, auf demBauernhofvon Lukas
und IrisFrey. Lukas und ich haben uns im Stu-
dentenheim Maximilianeum in Zürichken-
nengelernt. Er erzählte, dass siekeine Tiere
mehr hätten. DieKühe, dieSchweine, die
Hühner, alles aufgegeben. Eine Zeit ist abge-
laufen. Die letzten Truthähnewerden in eini-
gen Wochen schlachtreif.Der Hof produziert
heute Blumen und Christbäume.
Einbalsamierte Herzen
Der Sohn, der denHof übernimmt, muss sich
etwas überlegen. Eng sei esgeworden durch
die verschiedenen Schutzbestimmungen,
sagte Lukas. Die trutzigealteScheune stehe
unter Denkmalschutz. Darum liessen sich
keine zusätzlichen Öffnungen für die Tiere an-
bringen, was der Tierschutz jedochverlange
undgewiss richtig, aber nicht machbar sei.
Beim Einschlafen erinnerte ich mich der ein-
balsamiertenHerzen des letzten Habsburger-
Kaiserpaars. Die inzwischen nussgrossen
Organeruhen hier inMuri hinter dem Altar
derLoreto-Kapelle, als kuriose Hinterlassen-
schaft derGeschichte. Nachts hörte ichAutos
über die Kantonsstrassewimmern. Ab fünf
Uhrfrüh dichter Pendlerverkehr. Ohropax.
DieKuppe des Lindenbergs war am Mitt-
wochmorgen inHochnebelgehüllt. Märchen-
haft, und ja, es war durchaus seltsam, im Ne-
bel zu wandern. Hier ist in den1960erJahren
die erste Luftabwehr-Raketen-Batterie einge-
richtet worden, eine der neun strenggehei-
men Bloodhound-Stellungen in derSchweiz.
DieBauern da oben haben allerdingsgewusst,
dass in derTschechoslowakei sowjetische
Raketen auf den Lindenberg zielten. Kalter
Krieg und eine Art Gleichgewicht desSchre-
ckens.Heute stehen hier Transparente: «Ret-
tet den Lindenberg»,vor Windrädern.
ImDörfchenMüswangen – unter der Orts-
tafel blühten Geranien –wurde Brennholz
zumVerkauf angeboten, die «Linde» annon-
cierte fürSamstag ein Thai-Buffet, zwei
getigerte Katzen beobachteten den Feld-
mauser, und in der Kirche stehtgeschrieben:
«Alleswird gut –vertraue darauf.» Steil ging’s
hinunter zur «passage obligé» zwischen Hall-
wiler- undBaldeggersee. Ein Apparat mit der
Bezeichnung «Schneeglätte-Überwachung
Müswangen»zeigt den Ernst dertopogra-
fischen Steillage.
Drunten in Hitzkirchwollte ich denSchrift-
steller Erwin Koch besuchen. Aber der war
Flaschen entsorgen gegangen. UrsulaKoch,
ErwinsFrau, sagte: «Als ich pensioniert
wurde, fragten mich dieLeute, was ich denn
nun anfangemit all der Zeit. Und ich glaubte
michgenötigt zu sagen, ich hätte jetzt Zeit,
Dinge zu tun, die mir amHerzen lägen.Ich ha-
be mich tatsächlich engagiert undgemein-
nützige Arbeitgeleistet, Krankenbegleitungen
gemacht. Aber je mehr ich mich meinem eige-
nen Ableben nähere, desto mehr Zeit benötige
ich für mich.Ich kann heute dasitzen und den
Blumen beim Blühen zuschauen.Ich bin dann
ganz bei mir. Dankbar, noch da zu sein.»
Ich betrat nun dasGebiet der Mittelland-
seen,wovieleSchweizerSchweine daheim
sind während ihres 115Tage dauernden
Lebens.Auf einemMerkblattdesBerufs-
bildungszentrums Luzern steht: «Bei derFüt-
terungderMastschweine liegt das grösste Ein-
sparpotenzial. Optimal sindTageszunahmen
von 800 bis 850 Gramm.Wenn esgelingt, die
Tageszunahmen im Durchschnitt um 50
Gramm zu steigern,können 6 Masttage einge-
spartwerden.»
Es wird enggerechnet. Darum müssen sehr
viele Schweine in einem Stall sein. Ein
Schwein allein stinkt nicht, eintausend schon.
Geld riecht manchmal eben doch.Ich stieg
hinein in denGegenhang. Ein einzahniges
Mandliwies mir denfalschenWeg nachSankt
Wendel. Irgendwann erreichte ich eine kleine
Hochebene,woKrähenschwärme sich auf ab-
geernteten Äckern niedergelassen hatten.
Wenn einWind die Blätter der baldreifen
Maispflanzen bewegte, glich dasGeräusch
jenem desRegens. Aber der Himmel war blau,
und amHorizontzeigte sich die elegante Na-
del des «LandessendersBeromünster».
Eine Segnung füreinen Fünfliber
DieGespräche in den Stuben undWirts-
häusern sind jeweilsverstummt,wenn es
hiess: «Beim drittenTon ist es...», und dann
war es halb ein Uhr mittags.«Sie hören die
Nachrichten derSchweizerischenDepeschen-
agentur.»Der Wirt wischte die Finger an der
Schürze und drehte dieLautstärke auf. «Bero-
münster» ist seit elfJahrentot. Ich bestellte in
einer Beiz einen Wurst-Käse-Salat. Am
Stammtisch sagte einer im Trägerleibchen mit
mächtigWolle unter derAchsel: «Morgen hat
er schön!» Die andern nickten, schönesWet-
ter. Aberwer ist «er»?Eben, derLandessender.
In derLokalzeitung las ich: «Auf derA14 ist
man jetzt 23Sekunden schneller am Ziel.»
Dank tiefererTempo-Limite gebe es zwischen
Luzern und Zugweniger Staus.Was machen
dieMenschen mit diesen 23Sekunden?Ich
marschierte amSendeturmvorbei überWaldi
undSchenkon nach Sursee. Unterwegs hatte
ein bergwärts schwitzenderVelofahrer ange-
halten, auf demGepäckträger einenSackvoll
mitLebensmitteln. «Du hast aber schöne
Wanderschuhe», sagte er. «Neu,gell. Wohast
du diegekauft?»Ich bezog Quartier in einem
Geschäftsleute-Hotel undgenehmigte mir ein
Vollbad. Am Abend Störche beobachtet, die
In der Lokalzeitung las
ich: «Aufder A14 ist man
jetzt23 Sekunden
schneller am Ziel.» Was
machen dieMenschen
mit diesen23 Sekunden?
An einem Waldrand oberhalbvon Zell (LU).
Wander- und andereVerkehrswege kreuzen sich in Willisau.
Idylle nichtweit von der Schweizer Hauptverkehrsachse.
auf den Giebeln der Altstadthäuser ihre
Schlafplätze bezogen.
Der Weg von Sursee nachWillisau führte
langedurch nasses Gras.Ich verbot mir, an
meineFüsse zu denken. Einsamgelegene
Höfe, eintobenderHofhund.Der Himmel be-
deckt, obwohl «er» doch schön hatte. Das
StädtchenWillisau eignet sich alsKulisse für
Kostümfilme. StefanCalivers ist Chefredaktor
des «Böttu», des«WillisauerBoten», der trotzt
der Branchenkrise erfolgreich.Calivers verriet
dasGeheimnis: «Total lokal!Den Leuten aufs
Maul schauen, aber nicht nach demMundre-
den.Genau sein, gut schreiben.Ich bin einer,
der unter Zeitdruck am besten arbeitet.»
Als ich das Städtchenverlassenwollte, seg-
nete mich «Jesus», das schlurfende Stadtorigi-
nal, zumPreis einesFünflibers.Ich kam dann
tatsächlich erstaunlich leicht über dieWege.
Feststellung:BernerBauernhöfe sind deutlich
sauberer als die Luzerner. In «Huttu» (Hutt-
wil) durfte ich im Gasthaus KleinerPrinz die
Suite beziehen. Hier haben Bundesräte all er
Couleurgenächtigt. Und dieFarbfernseh-Pro-
minenz.
1805 warauch Napoleon hier – aber das
glauben nur dieHuttwiler. DieWirtin Käthi
Graber bot mir den «KleinenPrinzen» immer-
hin zum Kauf an. Im Stadthaus traf ichSandra
Lambroia,Gemeinderätin. Sie leitet das Qua-
litätsmanagement der SpitälerSolothurns.
Eine echte Pendlerin. «Ich habe permanent zu
wenig Zeit.Doch habe ich für mich entschie-
den, dass dasPendeln mirkeine Zeit nimmt.
DieWelt dreht sich auch ohne mich – und aus
dieserPerspektiveschöpfe ich ganzgelassen
Zeit und erreiche meine Ziele.»
Der Weg von Huttwil via Schwarzenbach
nach Sumiswald und Lützelflüh istweit. Ich
befand mich jetzt etwa auf demLängengrad
von Oftringen, dort donnern täglich 110 000
Automobile über dieA1. In einer anderen Zeit,
in Lützelflüh, hatte JeremiasGotthelfge-
schrieben: «DieseLehrzeit desWanderns ist
von grosserBedeutsamkeit für denrechten
Gesellen; er lernt daraus,Schritt umSchritt zu
gehen mitGeduld, er erfährt, dassSchritt um
Schritt zum Ziele führt so gut als Fliegen oder
Rennen.Jetzt fährt man auf Eisenbahnen für
ein Lumpengeldhundert Stundenweit, aber
wehe demGesellen, dem dieser Flug zuKopfe
steigt, der ihn übertragen möchte aufseinen
Lebensweg, erkömmtvon denrechten Schie-
nen ab.»Ich schlief in einemGemeinschafts-
haus für betreutesWohnen, gleich neben dem
«Ochsen»,Gotthelfs Stammlokal.Auf meinem
Weg hatte ich zu ahnen begonnen, warum
Wandern eineLebensform sein kann.
Am siebenten Tag überSchafhausen im
Emmental, Dieboldshausen, Utzigen,Dente-
berg nach Gümligen. Dann: Die Kapitulation
einesFussmaroden – ich fuhr mit öffentlichen
Verkehrsmitteln zumBärengraben, meinem
letzten Etappenort. ImBahnhofBern warte-
ten dann doch mindestens 100 000ver-
schwitzte Drängler mit riesigenRucksäcken.
Bergbeizen-Höckler.Wie in einerWiege trug
mich derSchnellzug zurück nach Zürich. In
lächerlichen 52 Minuten.
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