NZZamSonntag8. September 2019
Wissen 51
Dieprivilegierte
Behinderung
Autismus-Diagnosen nehmenrasantzu, Therapiezentrenkämpfen umstaatliche
Gelder. Einigewenigeautistische Kinder erhalten dort rund 30 Therapiestunden
proWoche.Geht dasauf Kosten andererKinder?Von Yaël Debelle
D
as Kind schaut niemanden
an. Lena (Namegeändert)
lacht nicht undreagiert
nicht,wenn man ihr etwas
zeigt. Sie hantiert mit
Gegenständen, aber sie
spielt nicht. Die Dreijährige
spricht nicht, hält sich die Ohren zu,weil das
Geräusch derHeizung laut ist.Lena leidet
unter frühkindlichemAutismus.So wie
immer mehr Kinder in derSchweiz. Es sind
inzwischen soviele, dass die Zentren, die
sich um sie kümmern sollten, aus allen
Nähten platzen.
Lena hatte Glück im Unglück. Sie hat
einen Platz in einem der privaten, aber staat-
lich subvent ioniertenAutismuszentren
bekommen. DreiWochen lang lebte sie in
einemweissen,reizarmen Raum,von mor-
gens bis abends,wurde hiergefüttert und
gewickelt. Sieben Therapeuten habenrund
um die Uhr abwechselnd mit ihrgearbeitet.
In derHoffnung, dassLena ein bisschen
lernt,wie man mitMenschen inKontakt tritt.
Nur ein Bruchteil der autistischen Kinder
kommt in denGenuss einer solchenFrüh-
intervention. Es gibt in derDeutschschweiz
drei Zentren für Kinder mitfrühkindlichem
Autismus. Sie sind als private Stiftungen und
Vereine organisiert, abervom Bund mit-
finanziert undteilweise an Universitätsklini-
ken an gegliedert. Sie bietenrund 30 Plätze;
es gibt aber in der ganzenSchweiz bis zu 190
Kinder proJahr mit dieser Diagnose.Wer
einen Platz in den Zentren ergattert, erhält
zwischen 20 und 35 Therapiestunden pro
Woche im Einzelsetting. Die anderen müssen
je nach Kanton mit einer Stunde heilpädago-
gischerFrüherziehung auskommen. «Es gibt
ein Gerangel um die Plätze in derFrühinter-
vent ion», bestätigtBettina Tillmann,Leiterin
des Autismuszentrums inAesch (BL).
So früh und so intensiv wie möglich
Dessen Slogan «Für ganzwenige ganzviel
mehr» bringt unfreiwillig einProblem auf
den Punkt: DieAutismus-Zentren führen zu
einer massiven Privilegierung einzelner
Kinder. Neun Kinder erhalten inAesch wäh-
rend einesJahres mehr als 20 Therapiestun-
den proWoche, danachwerd en sie einJahr
lang weit erbetreut. In Zürich sind es gar über
30 Stunden während zweierJahre. Und am
Zentrum inMuttenz (BL)wird jeweils nur ein
einziges Kind mit seinerFamilie behandelt,
drei Wochen lang hochintensiv.
«So früh und so intensiv wie möglichför-
dern.» Dieses Mantra hört man überall,wenn
von autistischen Kindern dieRede ist. Die
Autismus-Zentren in derSchweiz – neben
den drei in derDeutschschweiz gibt es eines
im Tessin und zwei in derRomandie – haben
sich diesem Credoverschrieben. Alle behan-
deln nur Patienten vor dem Kindergarten,
die jüngsten sind 12Monate alt.
Nun hat das Bundesamt fürSozialver-
sicherungen (BS V) einenBericht veröffen t-
licht, derviel Sprengstoff birgt. Er empfiehlt
ein flächendeckendes Angebot derFrüh-
intervention. Eineteure Empfehlung, denn
ein Behandlungszykluskostet 100000 bis
150000 Franken pro Kind. Das BSV zahlt
daranvorläufig 45000Franken und erwar-
tet, dass sich diese Investitionrechnet.
Bisher hat das Bundesgericht dieFrüh-
intervention mangels Erfolgsnachweis nicht
anerkannt. Nun hat das BSVwissenschaft-
liche Meta-Studien evaluieren lassen. Das
Ergebnis: DieFrühintervention seiwirksam
und die bisher beste bekannte Therapie-
methode. DieFormulierung bleibt aber vage:
Es könne geschlossenwerd en, dass eineFrüh-
intervention «die Entwicklung der jungen
Kinderverbessern (...) kann».Über Langzeit-
wirkungen sei noch zuwenig bekannt.
Auf 20 bis 30 Millionen schätzt das BSV
die Zusatzkosten für dieseProgramme pro
Jahr. Der Geldtopf der IV und der Kantone
für Behindertenhilfewird all erdings nicht
grösser.«Wenn wir diese Empfehlung umset-
zen, geht das aufKosten anderer Kinder»,
warnt eineAutismus-Expertin, die nament-
lich nichtgenanntwerd en will, weil sie sich
vor beruflichen Nachteilen fürchtet.
«Autismus hat eine sehr starkeLobby.» Es
gebe viele wohlhabende Eltern, die sich
engagierten. In den Stiftungsräten derBasler
Zentren sitzenrenommierteProfessoren und
Personen aus derBasler Oberschicht.
Autismus ist envogue. «Die Diagnosezah-
len habenweltweit stark zugenommen und
sich bei einemProzent der Bevölkerung ein-
gependelt», sagt der Diagnostiker und Psych-
iater Thomas Girsberger. Manche Kinder-
ärztegeben zu, dass sieAutismus auch dann
diagnostizieren,wenn derFall nicht eindeu-
tig ist –weil die Kinder dann Zugang zu bes-
SHANNO
N FAGAN / GETTY IMAGES
Oft erhalten nur
Kinder aus
finanziell besser
gestelltenFamilien
die aufwendigen
Therapien.
Für dieBehandlung
mussdie ganze Familie
mit Geschwistern für
drei Wochen na ch
Muttenz ineine
Wohnung ziehen.
seren Therapien haben. Öffentlich ausspre-
chen möchte dies aber niemand.
Die Zentren hätten den Luxus, die Kinder
auszuwählen. DieFrühintervention sei elitär
geworden, sagt eine Expertin.Fakt ist: Die
Eltern müssenviel in vestieren.Für die
Behandlung inMuttenz muss die ganze
Familie mitGeschwistern für dreiWochen
nach Muttenz in eineWohnung ziehen und
intensiv an Therapienteilnehmen.Ausser-
dem liegt der Elternbeitrag bei mindestens
13000 Franken.Zwar können sie Unterstüt-
zungvon Stiftungen oderGemeinden bean-
tragen – ein bürokratischerAufwand, der
mancheFamilien überfordert. Und die Eltern
müssenDeutsch oder Englisch sprechen.
«Wir machen eine höchst intensive psycho-
therapeutische Arbeit mit Kind und Eltern»,
begründet dieLeiterin EvelynHerbrecht die
sprachlicheHürde. Dies sei mitDolmet-
schern nicht möglich.
Tatsächlich ist Migration aber ein Risiko-
faktor fürAutismus,wie die drei Zentrums-
leiter bestätigen. Kinder, deren Eltern ausge-
wandert odergefl üchtet sind, sind häufiger
betroffen.Für denWalliser Pädiater Alain
Wimmersberger ist dies einProblem.«Wir
habenviele autistische Kindervon Portugie-
sen oder Asylbewerbern, diekein Deutsch
sprechen.»Auch das Zürcher Zentrum setzt
Deutschkenntnissevoraus.Tatsächlich trete
der schwere frühkindlicheAutismus aber
gehäuft bei Kindernvon afrikanischen, asia-
tischen oder osteuropäischen Einwanderern
auf, gibtLeiter Ronnie Gundelfinger zu.
Gerade diesekönne man aus Sprachgründen
bisweilen nicht aufnehmen,weil die inten-
sive Mit arbeit der Elternzentral sei. Die The-
rapien finden dreiTage pro Woche bei den
Kindern zu Hause statt – ein deutschsprachi-
ger Elternteil muss anwesend sein. Allein-
erziehende erwerbstätigeMütter sind damit
ebenso ausgeschlossenwie Familien, bei
denen nur derVater Deutsch spricht, aber
beruflich eingebunden ist.
Keine Zweiklassen-Medizin
In Aesch werd en keine gutenDeutschkennt-
nisseverlangt.«Wenn wir das verlangen
würden, fielefast die Hälfte unserer Klientel
durch die Maschen», sagtLeiterin Bettina
Tillmann.«Wir wollen keine Zweiklassen-
Medizin.» Aber auch inAesch müssen die
Eltern viel Zeit investieren und zwischen
8000 und 21000 Franken proJahr beitragen.
Für die zuweisenden Stellen sind dieAuf-
nahmekriterien nicht immer klar,wie aus
Fachkreisenverlautbartwird. Zitieren lassen
möchte sich aber niemand, das Thema ist
politisch heikel.Wie brisant, daszeigt sich
daran, dass mehrereProtagonisten ihre
Zita te zurückzogen oder gar nicht erst mit
der «NZZ amSonntag» sprechen durften.
«Es sind sehr guteProgramme, und sie
sollten allen Kindern zurVerfügung stehen»,
sagt derWalliser Pädiater AlainWimmers-
berger. Aber das bleibe«Wunschdenken»,
denn dieProgramme seienextrem teuer.
Deswegen sei sehrwichtig, dass nicht nur die
teilprivaten Zentren finanziertwürden, son-
dern dass auch die bereitsexistierenden
kantonalen Stellen fürFrühförderung
genügend Mittel hä tten. Diese stehen allen
Kindern zurVerfügung – unabhängigvon
Sprache,Region und Finanzen der Eltern.
Das kantonale Zentrum fürFrühförderung
in Basel-Stadt(ZFF) etwa bietet den Kindern,
die keinen Platz in den Zentren bekommen,
eine Stunde heilpädagogischeFrüherzie-
hung – imVergleich zu den 30 Stunden an
den Zentren einfrappanter Un terschied.
Dafürwird am ZFF mit dem alltäglichen
Umfeld des Kindesgearbeitet: Fachkräfte
beraten dieTagis, Spielgruppen und Kinder-
gärten, um die Kinder dort zu integrieren.
Der Kan ton Zürich finanziert immerhin bis
zu fünf Stunden Einzeltherapie. ImWallis
gibt es nur eine Stunde, dafür besuchen die
kantonalenHeilpädagoginnen ihreSchütz-
linge auch in den hinterstenTälern.
Die Basler Autismus-ExpertinMonika
Casura warnt aus einem anderen Grundvor
einer einseitigenFokussierung auf dieFrüh-
intervention:Autisten suchten oft symbioti-
sche Beziehungen mit einem Erwachsenen.
Nach einer so intensiven Einzelbetreuung sei
der Schritt in den Kindergarten schwierig.
Denn dort müssen die Kinder einen Erwach-
senen mit 20 Kindernteilen. DieFrühinter-
vent ion sei einwichtigerBaustein, aber sie
könne falscheHoffnungen wecken. Es brau-
che auchRessourcen für denÜbergang in
den Kindergarten und dieSchule.
Der Bericht des BSV führt zu einemSeil-
ziehen zwischen denteilprivaten Autismus-
zentren und den kantonal angestelltenHeil-
pädagogen.Beide Lager wollen Mittel für
ihre Angebote sichern. Die Zentren argumen-
tieren, dass dasGeld in derFrühintervention
effizienter in vestiert sei. Aber: «Ein autisti-
sches Kind ist nichtgeheilt,wenn es das Zen-
trumverlässt», sagtWimmersberger. «Viele
Kinder machen dort grosseFortschritte, aber
sie brauchen auch danach ambulante Betreu-
ung.»Denn Autismus ist nicht heilbar – auch
dann nicht,wenn ein Kleinkind 30 Therapie-
stunden proWoche erhält.