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NZZamSonntag8. September 2019
Wissen
ILLUSTRATION: RET
O CRAMERI
FortsetzungvonSeite 49
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Insgesamt ergibt sich aus diesenZahlen
ein Strombedarfvon zusätzlichrund 80 TWh
erneuerbarem Strom. ZumVergleich:Heute
liegt die inländische Stromproduktion ohne
die Kernkraft beirund 40 TWh proJahr.
Durch Effizienzgewinne könnte die grob
geschätzteZahl von 80TWh kleiner ausfal-
len, durchBevölkerungs- undWirtschafts-
wachstum und die Digitalisierung aber auch
grösser. In jedemFall handelt es sich um eine
sehr vorsichtigeSchätzung,weil sie in allen
Sektoren effiziente batterieelektrische
Anwendungen annimmt, obwohl diestech-
nisch nicht immer möglich seinwird.
Wie also sollenwir zusätzlich80 TWh
Stunden zusätzlich erzeugen,wenn wir im
Inlandkeine Gaskraftwerke bauen und den
Strom nicht aus demAusland importieren
wollen?
«Das grösstePotenzial hat in derSchweiz
die Photovoltaik», sagt Stefan Hirschberg.
2017 haben er und seinTeam vom PSI im
Auftrag des Bundesamts für Energie (BfE) die
800-seitige Studie «Potenziale,Kosten und
Umweltauswirkungen von Stromproduk-
tionsanlagen»veröffentlicht.
Die Wasserkraftwird sich nur nochwenig
steigern lassen. DasAusbaupotenzial liegt
laut einer Mitteilung des Bundesamts für
Energievon dieserWoche bei 1,6 TWh.Der
Windenergie traut Hirschberg einen zusätz-
lichenBeitrag von 4 TWh zu. Allerdings nur
theoretisch.Denn derzeit scheitert ihr
Ausbau an Einsprachen derBevölkerung. Die
Industrie habe im Grunderesigniert, sagt
Stefan Hirschberg. «DieSchweizer Strom-
unternehmen investieren stattdessen in
Windparks imAusland.» Die Stromerzeu-
gung aus Erdwärme schliesslich, die soge-
nannte Geothermie, befindet sich noch
immer in einemfrühen Entwicklungs-
stadium. Bis insJahr 2050wird sie keinen
grossenBeitrag zur Stromerzeugung leisten.
Bleibt also das Nutzenvon Sonnenener-
gie. Das Bundesamt für Energie beziffert ihr
«ausschöpfbares»Ausbaupotenzial auf
67 TWh auf Hausdächern und anFassaden
pro Jahr. Das Bundesamt hat seineSchätzun-
24 ct/kWh
22
20
18
16
14
12
10
8
6
4
2
0
fossiles Erdgas
2022 2030 2050
18
14
11
syn thetisches Erdgas fossiles Benzin
Bandbrei te
Prognostizierte Preisentwi cklung für synthetisches, klimaneutrales Erdgas
aus Nordafrika und dem Nahen Osten
Sinken de Kosten
Quelle: Agora Verkehrswende, 2018
gen damit innerhalbvon anderthalbJahren
nahezuverdreifacht. Noch im November
2017 lag dieSchätzung derBehörde bei maxi-
mal 14 bis 24,6 TWh.Den erstaunlichen
Sprung imAusbaupotenzial begründet das
Bundesamt damit, dass imJahr 2017 noch
keine Geodaten für Dachflächen undFassa-
den zurVerfügung standen. Entsprechend
vorsichtig seien dieSchätzungen damals
ausgefallen.
Wie gross dasPotenzial auch ist – beide
Angaben berücksichtigen nicht, ob Haus-
besitzer bereit seinwerd en, Photovoltaik-
anlagen auf die Dächer und an dieFassaden
ihrerGebäude zu schrauben. Die erwähnten
67 TWhwürden bedeuten, dass man 50Pro-
zent der Dachflächen und 30Prozent der
Fassadenverändern müsste. Ein Akzeptanz-
problem sieht das Bundesamt aber nicht,
weil es zukünftig noch mehrSolarmodule
geben werd e, die sich optisch nichtvon her-
kömmlichen Ziegeln undFassaden unter-
scheidenwürden.
Fehlende Stromspeicher
Die Stromspitzen, die an sommerlichen
Tagen um die Mittagszeit anfallenwürden,
könnte das Stromnetz ohne eine massive
Verstärkung dann allerdings nicht aufneh-
men. Und Energiespeicher,welche die mit-
täglichen Stromspitzen speichern, gäbe es
auch nicht. ImWint er, wenn besondersviel
Strom benötigtwird, würde sich dasProblem
nochweit er verschärfen.
ChristianBach ist Abteilungsleiter für
Fahrzeugantriebssysteme bei der Empa in
Dübendorf. Er hält dieFokussierung auf
Elektroautos aufgrund dergeschilderten
Probleme fürfalsch. «Batterieelektrische
Autos sind sinnvoll im Kurzstreckenverkehr.
Wenn wir kleine Stadtautos auf dieseWeise
elektrifizieren, deckenwir bereits70 Prozent
aller Fahrten ab», sagt er. In derTat sindBat-
terieautos der energetisch effizienteste Weg,
um heutigeVerbrennungsmotoren klima-
freundlich zu ersetzen.
Für die Reduktion der Treibhausgase noch
wichtiger sind allerdings dieLangstrecken-
fahrten.Aus statistischen Erhebungen weiss
man, dass die70 Prozent der kurzenFahrten
für nur 30Prozent der gesamten Emissionen
von Personenwagenverantwortlich sind.Auf
den 30Prozent der längeren Fahrten
Für die Langstrecke siehtBach daher
Autos im Vorteil, die mit synthetischem,
CO2-frei produziertemWasserstoff oder
Erdgasfahren.Herstellenwürde man den
Treibstoff durch die Elektrolysevon Wasser
mit erneuerbarem Strom,wobei Wasserstoff-
gas entsteht. Man nennt diesesVerfahren
daherPower-to-Gas (PtG).
In einem zweiten Prozessschritt kann man
den Wasserstoff unter Hinzugabevon CO2 zu
synthetischem Erdgas, Diesel undKerosin
weit erverarbeiten. Auf dieseWeise lassen
sich Nutzfahrzeuge,Schiffe und sogar Flug-
zeuge klimafreundlich betreiben. «In derTat
dürfte dies der einzigeWeg sein, um auch
den Flugverkehr zu dekarbonisieren», sagt
auchKonstantinosBoulouchosvon der ETH.
Einfachwird es aber nicht,weil dieWir-
kungsgrade bei der Umwandlungvon elektri-
schem Strom inWasserstoff, Erdgas und
andere Treibstoffe sehr tief sind.Bei jedem
Umwandlungsschritt vom elektrischen
Strom bis zum Treibstoffverliert man Ener-
gie: Während einBatterieauto noch bis zu
70 Prozent des Ladestroms inBewegungs-
energie umsetzt, sind es beim mit syntheti-
schem Erdgas angetriebenenVerbrennungs-
motor nur noch 20Prozent. Man braucht für
den Power-to-Gas-Weg daher nochviel mehr
Strom als die obengeschätzten80 TWh.
Sonnenreiche Regionen
Trotzdem sagt ChristianBach: «Ich bin der
Meinung, dasswir kein Energieproblem
haben.Wir haben die Energie nur nicht am
richtigen Ort.» Statt die synthetischen Treib-
stoffe mit erneuerbarem Strom im Inland zu
produzieren, sollte man Photovoltaik- und
Elektrolyseanlagen in sonnenreichenRegio-
nen der Erde bauen und auch die syntheti-
schen Treibstoffe dort herstellen. «Das sind
chemische Energieträger, die man gut nach
Europa transportieren kann, sowie wir es
heute mitfossilen Energien auch machen»,
sagt er.
Eine Studie dervon Stiftungen finanzier-
ten Initiative «Agora Verkehrswende»zeigt,
dass dieProduktionskostenvon syntheti-
schem Erdgas und synthetischen Flüssig-
kraftstoffen in sonnenreichenGegenden
Nordafrikas bis imJahr 2050 auf 11 Eurocent
pro kWhfallen. Das ist noch immerteurer als
die prognostiziertenKosten fürfossiles
Erdgas undBenzin. DasVerfahren bleibt also
teuer, und es liesse sich nur mit einer hohen
CO2-Abgabevon rund 400Franken pro
Tonne wirtschaftlichrealisieren.
Dennoch glaubt auchKonstantinosBou-
louchos an die Zukunft derPower-to-Gas-
Technik oder imFalle von Flüssigtreibstof-
fen derPower-to-Liquid-Technik (PtL). «Für
viele Anwendungen ist das der einzig mög-
licheWeg zurDekarbonisierung», sagt er.
«Aberwir können ihn nurgehen, wenn es
eine europaweit e Strategie gibt.Für ein ein-
zelnes Land kann man die nötige Infrastruk-
tur nicht aufbauen und Signale für Investitio-
nen setzen.»
Der Aufbau einer PtG-Infrastrukturwird
in jedemFall viele Jahrzehnte beanspru-
chen.Umsowichtigerwird es sein, auch die
Effizienz in allenWirtschaftssektoren und
im Verkehr zu steigern. «Mittelfristig müssen
zum Beispiel alleAutos Hybridantriebe
erhalten», sagtBoulouchos. Dasreduziert
die Treibhausgasemissionen sofort und ist
auch nochwichtig,wenn einmal syntheti-
sche Treibstoffe zur Verfügung stehen. «Es
wird dann eineRolle spielen,wie viel
erneuerbaren Treibstoff mangenau
benötigt. Da die Erneuerungder ganzen
Fahrzeugflotte mindestens zwanzigJahre
dauert, müssenwir auch an derVerbesse-
rung der heutigen Technik arbeiten», sagt
Boulouchos.
Um das Ausbaupotenzial
der Photovoltaik
auszuschöpfen,müsste
man 50Prozent der
Dächer und30 Prozent
derFassadenverändern.
55 %
Sohochwarim
vergangenenJahr
derAnteilder
Wasserkraftander
inländischen
Stromproduktion.
36 %
SchweizerKern-
kraftwerkelieferten
mehralseinDrittel
derStroms.
20 g CO2
SovielKohlendioxid
entstehtbeider
Produktionvon
Strominder
SchweizproKilo-
wattstunde.Inder
EUliegtdieserWert
bei400gCO2/kWh.
Schweizer
Strom
Spezial
Mobilität
dagegenwerd en die übrigen70 Prozent
emittiert. «Wenn manPersonenwagen also
klimafreundlich machenwill, muss man
auch undvor allem an dieLangstreckenfahr-
zeuge denken», sagtBach.
Elektroautos mit grossenBatterien hält er
für denfalschenWeg, weil im Inland nicht
genügend erneuerbarer Photovoltaikstrom
produziertwerd en kann und die Investitio-
nen in das Stromnetz zu hochwürden.
Zudem müsste dann eineextremteure Lade-
infrastruktur fürwenige Lastspitzen imJahr
- zumBeispiel in derFerienzeit – aufgebaut
werd en. «Daswird niemand bezahlen
wollen», sagtBach.