NZZ am Sonntag8.September 2019
Wissen 53
Schluss-StrichvonNico lasMahler
NeuesausderWissen schaft
Welche Geneunszu
Link shändernmachen
Linkshändigkeitwird zu einem
gewissen Gradvererbt:Zwil-
lingsstudienzeigen, dass etwa
25 Prozent derVariation der
Händigkeit aufGene zurückzu-
führen sind. Nun habenForscher
erstmals jeneGenregionen iden-
tifiziert, die damit inVerbindung
stehen («Brain»). Diesgelang,
indem sie das Erbgutvon
400 000Menschen analysier-
ten: Etwa jederzehnte war
Linkshänder. Dreivon vier
ermitteltenGenregionen stehen
in Zusammenhang mit sprach-
bezogenenBereichen des
Gehirns. DieForscher stellten
fest, dass bei Linkshändern die
Sprachbereiche der linken und
derrechten Hirnhälfte besser
aufeinander abgestimmtkom-
munizieren. Linkshänderkönn-
ten beiverbalenAufgaben dem-
nach einenVorteil haben.(mna.)
T.rexhatteeine
KlimaanlageimKopf
Der furchteinflössende Dinosau-
rierTyrannosaurusrexbesass
zwei grosseLöcher in seiner
Schädeldecke.Lange gingen
Forscher davon aus, dass diese
mitMuskelngefüllt waren, die
bei Kieferbewegungen halfen.
Doch nun gibt esZweifel an
dieser These. Amerikanische
Wissenschafter sind der Ansicht,
dass dieLöcherBestandteile
einer Art Klimaanlage imKopf
des Raubsauriers waren («The
AnatomicalRecord»). IhreVer-
mutung basiert aufVergleichen
mit Alligatoren und anderen
Reptilien. Diese besitzen ähn-
licheLöcher imSchädel, die aber
Blutgefässe enthalten.Wenn es
kühl ist, lassen Alligatoren Blut
durch dieGefässe imSchädel
fliessen, um sich aufzuwärmen.
Ist es dagegen warm, ist das
System nicht inBetrieb.(mna.)
Eurasische Hirten
verbreitete nSprachen
Es ist die bisher grösste Studie
mit alter menschlicher DNA:
Wissenschafter haben dieÜber-
restevon 524Menschen unter-
sucht, dievor 2000 bis 12 000
Jahren in Süd- und Zentralasien
gelebt hatten. DieResultate sind
in den Zeitschriften«Science»
und «Cell» erschienen. Damit
erhöht sich dieweltweite
Gesamtzahl derveröffentlichten
altenGenome auf einenSchlag
umvolle 25Prozent. Die Daten
gebenwichtige Hinweise auf
diverse Entwicklungen in jener
Zeit. Siezeigen zumBeispiel,
dass einst Hirten aus der eurasi-
schen Steppe die indisch-euro-
päischen Sprachenverbreiteten.
Zudem deutet die Arbeit darauf
hin, dass sich dieLandwirtschaft
von Anatolien aus nicht nur nach
Europa, sondern auch nach
Asien ausgebreitet hat.(mna.)
Rauche nmitKrebs
macht allesschlimmer
Wer gewohnheitsmässiger Rau-
cher ist und die Diagnose Krebs
erhält, hat oft dasGefühl, es
spielekeineRolle mehr,wenn er
jetztweiterrauche.Doch dem ist
nicht so,wie Lungenärzte an
einer internationalenFachkonfe-
renz inBarcelonafestgestellt
haben. Krebskranke, die rau-
chen, hätten eine höhere Sterb-
lichkeitsrate. Ausserdem sei die
Gefahr grösser, dass sich durch
das Rauchen einweiterer Tumor
ausbilde. Anscheinend sind sich
sogarvieleMediziner dieser
Problematik zuwenig bewusst.
Die Lungenspezialisten haben
deshalb Empfehlungen erlassen,
wonach Krebspatienten besser
imBemühen unterstütztwerden
sollen, das Rauchen doch noch
aufzugeben.(pim.)
AnTED-Konferen zen
sprechenmehrFrauen
Von wegen Mansplaining:
Frauen halten inzwischen mehr
als die Hälfte allerVorträge an
den berühmten TED-Konferen-
zen, wie Forscher in einer Ana-
lysefestgestellt haben («Political
Research Exchange»). An den
TED-Konferenzen halten hoch-
karätigeReferenten ausTechno-
logie,Kultur,Wissenschaft oder
KunstVorträge über ihrFach-
gebiet,wobei sie höchstens 18
Minuten Zeit haben. Unterver-
treten seien ethnische Minoritä-
ten, so dieWissenschafter.(pim.)
REUTERS
DONALD
E. HURLBERT
/ SMITHSO
NIAN
BETTMAN
N ARCHIVE
/ GETTY
Das geht unter die Haut: Marion Cranes Todesschrei, bevor sie im Hitchcock-Film «Psycho»(1960) erstochen wird.
Dasist
zum
Schreien!
Von wegen la ut und schrill:Der
menschliche Schrei stellt eine
eigeneForm der Kommunikation
dar.VonPatrickImhasly
W
ennMenschen sich dieSeele
aus demLeib schreien, dann
steckt mehr dahinter, als man
denkenwürde. «Schreien ist
eine besondereForm derKommunikation»,
erklärt derVerhaltensforscher und Psycho-
loge HaroldGouzoulesvon der Emory Uni-
versity inAtlanta. Und der Neurowissen-
schafter David Poeppel, der an der NewYork
University sowie am Max-Planck-Institut für
empirische Ästhetik inFrankfurt lehrt, sagt:
«Schreien stellt eine elementare Erfahrung
des menschlichenLebens dar.»Gouzoules
undPoeppelgehören zu denwenigenSchrei-
forschern, die es auf derWelt gibt, und sie
haben sichvorgenommen, diesemkomple-
xen und rätselhaften Phänomen auf den
Grund zugehen. «Es ist erstaunlich,wie
wenig über das menschlicheSchreien
bekannt ist», sagtGouzoules.
Schon dieFrage, was einenSchrei aus-
macht, ist alles andere als trivial. «Die meis-
ten Leutewürdenwohl sagen, einSchrei sei
laut und schrill – doch das stimmt nicht»,
sagt David Poeppel.Vor ein paarJahren hat
er zusammen mit seinemTeam die akusti-
schen Eigenschaften menschlicher Angst-
schreie analysiert. Dabei hat erfestgestellt,
dass der Angstschrei durch ein Phänomen
charakterisiert ist, das in der Psychoakustik
als Rauigkeit bezeichnetwird. Dazukommt
es,wenn dieLautstärkevon Tönen in sehr
rascherzeitlicherFolge moduliertwird. «Das
macht einenTon intuitiv rauer – und es
scheint, dass das menschlicheGehirn dies als
Alarmsignal interpretiert», erklärtPoeppel.
Mithilfevon Hirnscanskonnte er jedenfalls
zeigen, dass akustisch raueTöne imGehirn
insbesondere die Mandelkerne aktivieren,
also jeneRegionen, die für dieVerarbeitung
emotionalerReaktionenwie Furcht und
Unwillen zuständig sind.
«Interessanterweiseverfügen Alarmsire-
nen oder dissonante Akkorde – also Dinge,
die einem auf denWeckergehen – über die
gleichen akustischen Strukturen», sagt der
Neurowissenschafter. Rauigkeit ist auch
typisch für dasGeschreivon Kleinkindern.
Das passt, dennPoeppelsTeam begann sich
dann für dasSchreienwissenschaftlich zu
interessieren, als zwei der Mitarbeiter Kinder
bekamen, die ihre ElternTag fürTag akus-
tisch malträtierten.
EineVielfaltanSchr eien
«Typisch für denMenschen ist, dass er über
ein grossesRepertoirevon Schreienverfügt»,
sagt derVerhaltensforscher HaroldGouzou-
les.Der Mensch schreit nicht nur aus Angst,
sondern auch aus Ärger, Freude oder sexuel-
ler Erregung.«Schreie unterscheiden sich je
nach emotionalem Zustand, in dem sie
zustandekommen.Gouzoules arbeitet zur-
zeit daran, dieverschiedenen Arten mensch-
licherSchreie akustisch zu charakterisieren.
Erste Ergebnissezeigen, dass die Rauigkeit
nicht nur beim Angstschrei eineRolle spielt,
keineswegs aber einzigartigesMerkmal aller
Schreiarten darstellt.Ebenso spielenMerk-
malewie eine hohe Grundfrequenz sowie
eine hoheTonlage eineRolle.Ausserdem hat
Gouzoulesfestgestellt, dassMenschenver-
schiedene Artenvon Schreien auseinander-
haltenkönnen, aber nicht immer gleich gut.
AggressiveSchreie lassen sichrelativ leicht
von Angstschreien unterscheiden, nicht aber
Angstschreievon Schreien einer positiven
Erregung.
«Auf der Strasse schreien dieMenschen in
derRegel nicht einfach herum – es ist des-
halb nur schon ein logistischesProblem, an
genügend Material für unsereForschung
heranzukommen», sagt HaroldGouzoules.
In mühsamer Kleinarbeit hat er sich in den
vergangenenzehnJahren eine umfangreiche
Datenbank menschlicherSchreie aufgebaut,
die er auch ausAudioaufnahmen im Internet
zusammengetragen hat. Das dient alsRoh-
material zur Klärungweiterer der noch zahl-
reichen Rätselrund um dasWesen des
menschlichenSchreis.
Sokonnten Gouzoules und seinDokto-
randJonathan Engelberg imvergangenen
Dezember in einer Studiezeigen, dass der
Mensch nicht fähig ist, zwischen einem
echten und einem durch einenSchauspieler
nachgestelltenSchrei zu unterscheiden. Das
spricht für die Qualität der Arbeitvon Holly-
woodsSoundingenieuren und erklärt,
warum uns im berühmten Horrorfilm
«Psycho» Marion CranesSchrei in der Dusche
dermassen unter die Hautgeht, bevor sievon
NormanBates brutal niedergestochenwird.
Immerhin hat derMensch einfeinesGespür
für das Individuelle in einemSchrei. In einer
eben erst erschienenen Arbeit belegt
Gouzoules’Team anhandvon Experimenten,
dasswir jemanden anhand seinesSchreis
identifizierenkönnen, auchwenn seinSchrei
abgewandeltwird.
Hilfe holen
VieleLebewesen schreien, auch solchewie
Hasen, die nicht besonders sozialveranlagt
sind. HaroldGouzoulesvermutet, dass der
Urschrei in der Evolution entstand, um einen
Fressfeind zu erschrecken und sich ein paar
Sekunden Zeit für die Flucht zuverschaffen.
Mit der Entwicklung sozialer Interaktionen
sei derSchreivielfältigergeworden und habe
insbesondere dazugedient, Hilfevon ver-
wandten Individuen zu holen,wenn ein Tier
in Schwierigkeiten geraten sei. «BeimMen-
schen hat derSchrei dann eine noch breitere
Verwendunggefunden.» Daskönnte erstaun-
licherweise mit der Entwicklung der Sprache
zusammenhängen: «Reden zukönnen, hat
auch unsereFähigkeit zur nonverbalen
Kommunikationverbessert», so der ameri-
kanische Psychologe.
DerUrschr eients tand
vermutlich,um einen
Räuber zuerschrecken
und sicheinpaar
SekundenZe itfürdie
Fluchtzuversc haffen.
Schreie für die
Geschichte
1951
zog ein Alligator in
einem Western einen
Mann unter Wasser.
Dessen «Aaaaah!»
wurde bekannt als
Wilhelmsschrei und
fand später in vielen
FilmenVerwendung.
120 dB
So lautschrie die
Britin Jill Drake 2000
bei einem Wettbe-
werb. Eswar der lau-
testeje gemessene
Schrei – lauter als ein
Düsentriebwerk.