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Mensch &Medi zin
Bei fastallen psychia-
trischen Di agnosen
werden Traumata und
andere schlimme
Erlebnisse nicht richtig
berücksichtigt.
News
DasEssen von Pflanzen
verlängert das Leben
PflanzenproteinefördernGesundheit und
Langlebigkeit, so dasFazit einer Studie aus
Japan.Forscher haben 70000 Personen, die
durchschnittlich 55 Jahre alt waren,18 Jahre
lang beobachtet. Verglichen mit der Gruppe,
die am meisten Pflanzenproteine zu sich
nahm, starben diePersonen mit dem nied-
rigstenKonsum deutlich häufiger an einer
Herzkrankheit oder erlitten einen Hirnschlag
(«Jama InternalMedicine»).Würde man
rotes oderverarbeitetes Fleisch durch
pflanzlicheProteine ersetzen, liesse sich die
Sterblichkeit durch Krebs undHerzkrankhei-
ten senken, so dieAutoren. Gute pflanzliche
Proteinlieferanten sind unter anderem
Kichererbsen,Sojabohnen, Linsen, Nüsse,
Haferflocken oder Brokkoli.(tlu.)
Perfekte
Täuschung
Diagnose
AndreaSix
E
igentlich ist die 44-Jährige ledig-
lichwegen ihrerBauchschmerzen
bei der Ärztin.Seit vier Wochen
hat sieBeschwerden im Ober-
bauch und magfast nichts mehr essen.
Sie fühlt sich satt, obwohl sie kaum etwas
herunterbringt. Allerdings erzählt sie
auchvon den anderen medizinischen
Merkwürdigkeiten, die sie in letzter Zeit
an sich selbst beobachtet hat.
Alles hatte mit einem Fieberschub be-
gonnen. Danach war einAusschlag am
Körper aufgeblüht, und Hals und Glieder
hattengeschmerzt. Die Ärztinverschreibt
ein Antibiotikum,weil sie eine Infektion
mitBakterienvermutet. Sie liegt damit
zwar richtig.Den Kern der Erkrankung
hat sie aber übersehen.
Und soverschlimmern sich dieBauch-
schmerzen denn auch.Bei einer Magen-
spiegelungwird eine Magenschleimhaut-
entzündung diagnostiziert.
An denLaborwerten liest die Ärztin
zudem ab, dass dieLebergeschädigt ist.
Die Ärztintestet das Blut aufHepatitis-
Viren und andere Erreger, die infrage
kommen.Doch alleTests bleiben negativ.
Nunwird eineAutoimmunkrankheit
vermutet, die mit starkenMedikamenten
behandeltwird. Doch dieBeschwerden
bessern sich nichtwirklich.
In derZwischenzeit hat die 44-Jährige
einenFrauenarztterminwegen vaginalen
Juckreizesvereinbart. Die Gynäkologin
weist endlich den Erreger nach, der auch
alle anderen Krankheitszeichen hervor-
ruft: DieFrau leidet anSyphilis,verur-
sacht durchTreponema pallidum.Die
Infektion mit dem sexuell übertragbaren
Bakterium kann unbemerkt imKörper
schwelen, bis mitunter derart unspezifi-
scheBeschwerdenwie bei der 44-Jähri-
gen ausbrechen. Unbehandelt kann die
Krankheittödlich enden. Durch eine
zweiwöchige Therapie mit passenden
Antibiotika lässt sich dasLeiden jedoch
komplett beseitigen.
Quelle: «ACG CaseJournal», 2019, Bd.6,
online
HENR
Y NICHOLL
S / REUTERS
MenschenmassenkönnenbeimanchenPersonenAngstoderPanikattackenauslösen.(GlastonburyFestival in Somerset, Grossbritannien,28.Juni2019)
MitSoftwaregegen
psychischeLeiden
Ein neuesComputerprogramm soll genauere Diagnosen fürseel ische Krankheiten
liefern.Den Patien ten bringe dies wenig, sagenKritiker.Von Felicitas Witte
F
ür Menschen mit einem psychi-
schenProblemtönt dasneue
Diagnosesystem Klenicovielver-
sprechend: Eine «zuverlässige
Diagnose»verspricht dieWeb-
site, eine «bestmögliche Thera-
pie» und einen «sichtbarenBehandlungs-
erfolg». Das Diagnosesystem funktioniert so:
Der Patient klickt sich durch diverse Bild-
schirmseiten und wählt dieAussagen aus,
die auf ihn zutreffen. ZumBeispiel: «Ich bin
leichtreizbar» oder «Ich bin ständig am Grü-
beln.» Später ordnet er seineBeschwerden
einemSchweregrad zu.
Mit den Angaben erstellt Klenico indivi-
duelleSymptomkarten, die mit den blauen
Feldern und kleinen Kreisen an Bilder des
Sternenhimmels erinnern.JedesFeld steht
für eine Krankheit und jeder Kreis darin für
einSymptom.Bei einemMenschen mit
Depressionen wären zumBeispiel mehrere
Kreise in demDepressionsfeldfarbig und
diejenigenrot, unter denen der Patient
besonders leidet – etwa Erschöpfung oder
Hoffnungslosigkeit.
Keine publizierte Studien
Er halte Klenico für eine «echte Innovation»,
sagt ThomasMeier, bisvor kurzem Chefarzt
der Psychiatrie-Dienste Süd im Kanton
St. Gallen.Der Psychiater hat dasSystemvon
einigen seiner Patienten testen lassen, und
die seien begeistert.«Sie fühlen sich umfas-
send wahrgenommen undkönnen in aller
Ruhe über ihreBeschwerden nachdenken»,
sagt er.«Wir als Ärzte übersehen nichts, tref-
fen einegenauere Diagnose undwerdenvom
Systemgewarnt, etwa bei einer akuten Sui-
zidgefährdung.»
AuchAchim Haug,Leiter der psychiatri-
schen Gruppenpraxis der ClieniaAGin Win-
terthur, hatgerade angefangen, Klenico ein-
zusetzen. «Gut amSystem ist, dass man bei
weiteren Sitzungen auf einen Blick sieht, ob
dieSymptome schlimmer oder bessergewor-
den sind», sagt er.«So kann man die Thera-
pie allenfalls anpassen.»Beide Psychiater
sind imVerwaltungsratvon Klenico –viel-
leichtrührt daher ihreBegeisterung.
Denn ob die Kartenwirklich einen Nutzen
haben, ist nicht bewiesen. Studien hierzu in
Fachzeitschriften gibt eskeine. In einer nicht
veröffentlichten Untersuchung in drei psych-
iatrischen Kliniken in Süddeutschland mit
28 Ärzten und Psychologen und 120 Patien-
ten erfassten die Therapeuten mit den Kleni-
co-Karten mehrSymptome undkonnten die
Behandlung detaillierter planen. Ärzten fiel
es zudem leichter, ihre Arztbriefe zu schrei-
ben, und diese warengenauer.Jetzt soll das
System in einer Studie in sieben Kliniken im
deutschsprachigen Raumgetestetwerden.
DieSelbstauskünftevon 1500 Patienten im
Klenico-Systemwerden durchFachleute
überprüft und mit den Ergebnissen aus klas-
sischenTestverfahrenverglichen.
Wie beurteilenForscher, die nicht mit
Klenicoverbandelt sind, das Diagnose-
system? Gregor Hasler, Chef-Psychiater an
der UniversitätFreiburg i.Ü., ist skeptisch:
«Ich halte nichts davon, neueMessinstru-
mente für psychische Störungen zu erfinden,
um damitGeld zuverdienen.Wir haben
schongenügend bewährteTestinstrumente,
und siekosten nichts oder kaum etwas.»
BeiKlenico soll einBefund dagegen 100 bis
200 Frankenkosten.
Bis heute stellt der Psychiater die Dia-
gnose imGespräch und mitgezielten, stan-
dardisiertenFragen. Zusätzlich müssen
manche Patienten Fragebögen ausfüllen,
etwa um denSchweregrad einerDepression
oder einer Angststörung zu erfassen. «Frage-
technik undFragebögen sind inHunderten
von Studien validiertworden und haben sich
in derPraxis bewährt», sagt Hasler.
SilkeBachmann, Ärztliche Direktorin der
Psychiatrischen Clienia-Klinik in Littenheid,
siehtvor allem den Einsatzvon Klenico in
Spitälern kritisch. «Manche Patienten sind
hier so krank, dass sie nicht in derLagesind,
die Karten auszufüllen», sagt sie. «Andere
- etwa diejenigen mitSchizophrenie –
nehmen sich und ihreProbleme ganz anders
wahr als der Therapeut. Diese Unterschiede
sindwichtig für die Diagnose, aber mit den
Kartenverpasst man die möglicherweise.»
Bei der Clienia-Gruppe habe man sichgegen
Klenico entschieden.
Therapie setzt bei Auslösern an
Hasler kritisiert zudem, dass der Ansatzver-
altet sei. «Immer mehrSymptome zu
erheben, warwissenschaftlich interessant,
hat aber dieBehandlung nichtweiter verbes-
sert.»Heuteversuche man eher, die aus-
lösenden und krankheitserhaltendenFakto-
ren herauszufinden und hier bei der Thera-
pie anzusetzen. ZumBeispiel, dass der jahre-
langeStreit mit dem Partner oder ständige
Kränkungen am Arbeitsplatz zumAusbruch
einerDepressiongeführt haben.
«Ob der Patient dann eher Energieverlust
oder eherTagesmüdigkeit bei Klenico an-
klickenwürde, ist nicht entscheidend», sagt
Hasler, «sondern dass er sich der zugrunde
liegendenProbleme bewusstwird und die
lösen lernt.»Bei fast allen psychiatrischen
Diagnosenwürden Traumata und andere
schlimme Erlebnisse nicht richtig berück-
sichtigt, kritisiertengerade auchForscher
von der Universität in Liverpool («Psychiatry
Research»,Bd. 279, S. 15).
«Kommt ein Patient zu mirwegen eines
Burnouts am Arbeitsplatz undwill über seine
Kränkungen durch dieKollegen erzählen,
fühlt er sich nichtverstanden,wenn ich ihm
Symptomlisten zum Anklickengebe», sagt
Hasler. Erwolle den Entwicklern ja nicht
zu nahe treten, aber er habe den Eindruck,
es gehe Klenico mehr um eine aufwendige
Dokumentation als um den Patienten. «Ich
würde mich nichtwundern,wenn dahinter
die Absicht steckt, Klenico als Qualitätssiche-
rungin derSchweiz einzuführen. Das wäre
abervöllig unzeitgemäss, und der Patient
käme zu kurz.»
15 %
derMenschen
fühlensichziemlich
oderstark
psychischbelastet.
9 %
derBevölkerung
leidenaneiner
Depression.6% sind
wegeneinespsychi-
schenProblemsin
Behandlung,Frauen
häufigeralsMänner.
Psychische
Leiden