Neue Zürcher Zeitung - 08.09.2019

(John Hannent) #1

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NZZamSonntag8. September 2019

Folklore-Pop boomt Buchmarkt Schweiz


Dassinddie sieben


Grossbaustellenim


Buchhandel 63


DerMännerchor


«Heimweh»stürmt die


Hitpar ade 61


«Es istein Bewusstsein
entstanden, dass wir
unsden Verstrickungen
von Sc hweizern in die
Kolonialzeit widmen
müssen. Ein Aufbruch.»

Siewürden


dasRaubgut


ja gerne


zurückgeben


Museen inganz Europa stehen wegen


Objekten aus der kolonialen


Vergangenheit unter Beschuss. Wie si eht


es in der Schweiz aus?Von Gerhard Mack


D


er Räuber war Diplomat.
EdmondRochette war in
Schweizer Diensten in
Japan tätig und sammelte
Asiatika. Er liess sein Haus
offen, nachts brachte man
ihm Gegenstände.Wenn
ihm am nächstenTag etwasgefiel, bezahlte
er. Um1890 kaufte er so einengestohlenen
Hausaltar ausKyoto. Kurz darauf kamen
Mönche aus einem Kloster undforderten
das Diebesgut zurück. Nach dem Sturz des
Feudalregimes ging dieRegierunggegen
den Buddhismusvor, die Klöster kämpften
umsÜberleben.EdmondRochette wusste
das. Dennoch gab er den Hausaltar nicht
heraus.Der Schrein war schliesslich das
beste Stück seinerSammlung.
Der Fall zeigt deutlich, warum in Europa
seit einiger Zeit eine heftigeAuseinander-
setzung um den Umgang mitKulturgütern
aus der Zeit desKolonialismustobt: Da
wurden Objekte an sichgenommen, abge-
luchst,geraubt, die für dieBesitzerwichtig
waren. Das Themaköchelte schon lange
und kam prominent auf dieTagesordnung,
als derfranzösischePräsident Emmanuel
Macron Ende 2017 in BurkinaFaso die
Rückgabevon Kulturgütern nach Afrika
ankündigte und den senegalesischen
ÖkonomenFeldwine Sarr und die Pariser
KunsthistorikerinBénédicte Savoy mit
einemBericht dazu beauftragte.Der lag ein
Jahr später vor. Seither gehen dieWogen
hoch. Sie stellen darin alles unter den
Generalverdacht des unrechtmässigen
Besitzes, was aus derKolonialzeit aus
Afrika in denWesten kam. IhreSchrift
«Zurückgeben»fordert eine Umkehrung
der Beweislast:WestlicheMuseen müssen
den rechtmässigen Erwerb belegen oder die
Objekte zurückgeben.
Boris Wastiaukennt dieProblematik zur
Genüge. Er leitet das EthnografischeMu-
seumGenf, in seinem Haus befindet sich
der beschriebene japanische Hausaltar,
und er sagt unumwunden:«Wir haben eine
Reihe solch problematischer Objekte und
für diese einForschungsprogramm auf-
gelegt, dasfragt, wie man damit umgehen
soll.»Dennochgeht er zuSaar undSavoy

auf Distanz:«Was mich stört, ist nicht
die Forderung nachRestitution, son-
dern ihre Haltung.Saar undSavoy
tun so, als hätten sichwestliche
Museenvor ihnen nicht mit
demKolonialismus und
Fragen des unrechtmässi-
gen Er werbs auseinander-
gesetzt. Und das ist einfach
nicht richtig.»
Der Genfer Museumschef
ist gewissermassen der Mister
Provenienzforschung der euro-
päischen Ethnologie und fühlt sich
in seiner Ehre alsWissenschafter
gekränkt.Vor zwanzigJahren hat er
bereits eineAusstellung über dieGewalt des
kolonialistischenSammelns imKongo
gemacht. Damals arbeitete er inBelgien am
KöniglichenMuseum für Zentralafrika und
setzte sich mit der Hinterlassenschaft der
Kolonialmacht auseinander.Seit 2009 leitet
er das EthnografischeMuseumGenf und
hat es zu einer derVorbildinstitutionen im
Umgang mit seinenSammlungen gemacht:
«Jedes Objekt hat eine soweitirgend möglich
vollständigeProvenienz über seine Erwerbs-
umstände undGeschichte.»
Vor allem aber lehnt er dieBehauptung ab,
Museenwollten Objekte nicht zurückgeben.
Das trifft zumindest auf dieSchweizer
Museen nicht zu.Rückgabe ist fürkeines der
Häuser einProblem.Von St. Gallen über
Basel bisGenf tönt es gleich:Wir geben
zurück,wenn wir an gefragt werden. «Das ist
ein Thema derMedien; ichwerde am meis-
ten nachRückgabengefragt und habe noch
keine Anfrage dazu bekommen», sagt denn
auch Mareile Flitsch, die dasVölkerkunde-
museum Zürich seit 2008 leitet. DieMuseen
haben ein anderesProblem: Sie erhalten
keine Anfragen aufRückgabe. Und siever-
missen die Chance, darüber in einen Dialog
mit denHerkunftsländern zu treten.Wastiau
sagt deutlich: «Rückgaben sind für uns über-
haupt nichts Neues. ImGegenteil, wir hä tten
gerne Anfragen dazu.»(siehe Interview)
Gleichwohl distanziert sich in derSchweiz
niemand so deutlichvon Sarr undSavoy wie
Wastiau. In St. Gallen sprichtSammlungs-
leiter Achim Schäfervon einer«Streitschrift,

die man in den Alltag überset-
zen» müsse. Andreas Islervom
Völkerkundemuseum Zürich
findet dieDebatte wichtig,
weil sie die «Bedeutung
von Objekten als histori-
schen Zeugen» hervor-
hebt. UndSamuelBach-
mann, der amBerni-
schen Historischen
Museum für die ethno-
grafischenSammlungen
zuständig ist, schätzt den
Schub, den die öffentliche
Diskussion der postkolonialenFor-
schung gibt: «Da ist ein neuesBewusst-
sein entstanden, dasswir uns auch in der
Schweiz verstärkt denVerstrickungen von
Schweizern in dieKolonialzeitwidmen
müssen. Das ist einAufbruch.»Überall
spürt man eine diffuse Mischung aus
Erleichterung und Schuldbewusstsein.
Eine Art moralischen Appell, der ohne
Moralinsäure auskommenwill.
Denn genau das trübt den Blick:Wer von
ideologischer oder moralischerWarte aus
in dieVergangenheit schaut, produziert
dunkle Flecken. «Beurteilungen müssen
fundiert sein», sagt Esther Tisa. Sie hat in
den neunzigerJahren für dieBergier-Kom-
mission zu NS-Raubkunst in derSchweiz
geforscht und kümmert sich seitzehn
Jahren amMuseum Rietberg in Zürich um
die Provenienzen derSammlung.«Wir
bewegen uns bei ethnografischenSamm-
lungen in einemkolonialenKontext. Auch
in derSchweiz. Daswill niemand negieren.
Aber was heisst dasgenau?Wir müssen
bei jedem Objektgenau hinschauen,woher
es kommt,wie es erworbenwurde, wer
der Sammler war undwie es in unsere
Sammlunggekommen ist. Da gibt eskein
Schwarz-Weiss.» Diesenkonkreten Blick
will sie derzeit mit einer Intervention in der
Sammlungvermitteln.
Bei einemRundgangverweist sie auf
eineWächterfigur aus einem hinduisti-
schenTempel aus Indien. Siegehörte
einmal zu einem Skulpturenensemble und

FortsetzungSeite58


Einesvon vielen Objekten aus dem briti-
schen Raubzug gegen das KönigreichBenin
1897: Gedenkkopf für Königinmutter Iyoba
aus demVölkerkundemuseum St. Gallen.

FOT


O: CHECHI


L ORIF


A, HISTORISCHE


S UND


VÖLKERKUNDESMUSEU


M ST. GALLEN

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