Beobachter - 13.09.2019

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ie Schweiz arbeitet derzeit die Schande
der administrativ Versorgten auf. Gleich-
zeitig hat der Kanton Aargau eine Verord-
nung erlassen, die hart an diese Zeiten erinnert.
Danach sollen Sozialhilfeempfänger dank dem
neuen Paragrafen «zur Umsetzung entsprechen-
der Betreuungs- oder Integrationsmassnahmen
einer Unterkunft zugewiesen werden können».
Konkret: Sie dürfen nicht mehr zwingend frei
wählen, wo sie wohnen, und können in ein Heim
oder eine andere kantonale Unterkunft abge-
schoben werden.
Am Beginn des Sündenfalls steht eine Inter-
pellation der Aarburger Grossrätin Martina
Bircher vom 9. Januar 2018. Die SVP-Politikerin
hatte schon vor zwei Jahren mit einer Motion
versucht, die Sozialhilfe auf das Existenzmini-
mum zu drücken.
Diesmal störte sich Bircher daran, dass vor-
läufig aufgenommene und anerkannte Flücht-
linge den Status von Sozialhilfeempfängern
haben. Damit erhielten sie automatisch die glei-
chen Rechte wie diese, insbesondere bei der
Wahl der Wohnung. Das fördere Mietzinswucher
und verursache der öffentlichen Hand viel zu
hohe Kosten. Bircher verlangte darum eine An-
passung der Sozialhilfe- und Präventionsver-
ordnung: Flüchtlinge, die Sozialhilfe beziehen,
sollten einer kantonalen Unterkunft zugewiesen
werden können.

Trotz Gesetz an Idee festgehalten. Der Aargauer
Regierungsrat antwortete, die freie Wohnorts-
wahl sei auch für anerkannte und vorläufig auf-
genommene Flüchtlinge gesetzlich verankert.
Dennoch verfolgte das zuständige Departement
für Gesundheit und Soziales die Idee weiter. Das
Departement wurde zu diesem Zeitpunkt von
der auch bei ihrer eigenen Partei in Ungnade
gefallenen damaligen SVP-Regierungsrätin
Franziska Roth geführt.
Die Juristen ihres Departements und des
Regierungsrats beanstandeten, man könne
innerhalb der Verordnung keine Zweiklassen-
gesellschaft einführen, also Flüchtlinge und
Sozialhilfeempfänger unterschiedlich behan-
deln. Deshalb wurde der neue Paragraf kurzer-
hand so formuliert, dass er für alle Sozialhilfe-

bezüger gilt. Was die Regierung ignorierte: Die
freie Wahl des Wohnorts ist im Bundesgesetz
verankert, das über kantonalen Gesetzen und
Verordnungen steht. Trotzdem trat der Paragraf
am 1. März 2019 in Kraft, von der Öffentlichkeit
und den meisten Aargauer Politikerinnen und
Politikern weitgehend unbemerkt. 
Nun formiert sich Widerstand. «Wir finden es
unsäglich, dass eine solche Verordnung erlassen
werden konnte», sagt Andreas Hediger, Ge-
schäftsführer der Unab hängigen Fachstelle für
Sozialhilferecht (UFS). «Hier haben so ziemlich
alle Kontroll mechanismen versagt, insbesonde-
re die Rechtsabteilungen des Departe ments und
des Regierungsrats. Und das, obwohl im Regie-
rungsrat wie auch an der Spitze der Aargauer
Sozialdienste etliche Juristen sitzen.»

Zwang sei nicht die Absicht. In Erklärungsnot-
stand geraten, betont der Regierungsrat jetzt,
dass die Verordnung lediglich auf Flüchtlinge
abziele und man keineswegs die Absicht hege,
andere Sozialhilfebezüger in Heime abzuschie-
ben. Nur ist der neue Paragraf genau so formu-
liert, dass die Gemeinden genau das tun können.
Betroffene hätten vor Gericht beste Chancen,
gegen einen solchen Entscheid vorzugehen.
Stefan Ziegler, Leiter des Sozialdienstes Kanton
Aargau, räumt gegenüber dem Beobachter denn
auch ein: «Es gibt keine Handhabe, die Leute zu
zwingen.» Das sei aber auch nicht die Absicht.
Doch wie schaffte es die Interpellation von
Martina Bircher überhaupt, unbemerkt durch
die Vernehmlassung zu kommen? CVP-Grossrat
Andre Rotzetter sagt, Verordnungen abzuändern
liege in der Kompetenz des Regierungsrats. Er
habe sicher über die Änderung informiert. «Mi-
lizpolitikern fehlt aber oft die Zeit, um die jeweils
sehr grosse Menge an Traktanden, Infos und Be-
richten vertieft zu prüfen.» Meist studiere man
aus den wöchentlich über 300 Seiten jene Ge-
schäfte, für die man zuständig sei. «Beim Rest
verschafft man sich nur einen Überblick.»
CVP, SP, Grüne und EVP wollen jetzt gemein-
sam gegen den Paragrafen vorgehen. Und die
Unab hängige Fachstelle für Sozialhilferecht hat
eine Onlinepetition gestartet und sammelt
Unterschriften. ANDREA HAEFELY

VERORDNUNG. Die Aargauer Regierung kann Menschen, die Sozialhilfe beziehen, ins Heim
abschieben. So sieht es ein neuer Paragraf vor – er verstösst gegen geltendes Recht.

Sozialfälle ins Heim?


Im Aargau möglich


«Wir finden
es unsäg-
lich, dass
eine solche
Verordnung
erlassen
werden
konnte.»
Andreas Hediger,
Geschäftsführer
Unab hängige
Fachstelle für
Sozialhilferecht

26 Beobachter 19/2019
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