FOTO: JAN-PETER BOENING/LAIF
schaffen und die Politiker per Los be
stimmen. Denn erst ein Parlament, das
aus der ganzen Bevöl kerung ausgelost
wird, sei wirklich repräsentativ – und
funktioniere erst noch besser. Die Par
lamentarier müssen sich nicht um ihre
Wiederwahl kümmern, seien dadurch
offener für weitsichtige Lösungen und
eher bereit, Kompromisse zu finden.
Heute aber würden wir bei den alle
paar Jahre stattfindenden Wahlen un
sere Stimme wegwerfen und könnten
nur hoffen, dass die Volksvertreter tat
sächlich machen, was wir wollen, sagt
Van Reybrouck.
Vom selben Geist, aber nicht dasselbe.
Mitte Oktober wählen wir in der Schweiz
das neue Parlament. Wird es ein Abbild
der Bevölkerung? Wie demokratisch ist
die Schweiz? Herrscht nicht vielmehr
die viel gescholtene Classe politique, ma
chen «die in Bern oben», was sie wollen?
Kurz gesagt: nein. Die Schweizer
Verfassung von 1848 und die ameri
kanische sind zwar vom selben Geist,
aber die Eidgenossenschaft hat sich
weiter entwickelt. 1874 wurde das fakul
tative Referendum eingeführt und 1891
die Volksinitiative, zwei entscheidende
Neuerungen mit Folgen. Im Gegensatz
zu den USA haben sich dadurch die
Mehrheiten im Parlament und das
Stimmvolk immer weiter angenähert.
Trotzdem sei auch hierzulande eine
gewisse Skepsis angebracht, sagt der
emeritierte Basler Soziologieprofessor
Ueli Mäder. «Wir halten unsere Demo
kratie gerne für das Nonplusultra, aber
sie lässt sich allzu oft von wirtschaftlich
Mächtigen in die Schranken weisen.»
Zum Beispiel, wenn eine Steuer
reform plötzlich ein Mehrfaches von
dem kostet, was vor der Abstimmung
behauptet wurde, oder wenn sich die
Politik standhaft weigert, die Parteien
finanzierung transparent zu machen.
Mäder beklagt solche Entwicklungen
seit Jahren. «Aber noch gravierender
ist wohl, wie soziale Gegensätze zu
nehmen und Konzerne gegenüber der
Politik an Einfluss gewinnen.» Das hän
ge nicht zuletzt mit der Globalisierung
zusammen, die sich sehr einseitig
auf die Wirtschaft konzentriert habe.
Mäder wünscht sich deshalb, dass die
Demokratie mehr Lebensbereiche er
fasst, insbesondere die Wirtschaft.
Putzen statt weibeln. «Damit eine direk
te Demo kratie funk tioniert, muss die
Bevöl kerung verantwortlich partizipie
ren.» Das sei heute nur begrenzt der
Fall. «Arme Leute gehen samstags
putzen, sie beteiligen sich weniger an
Standaktionen.» Bei aller Kritik sei die
direkte Demokratie eine wertvolle Er
rungenschaft, die es zu schützen gelte,
sagt Mäder. Und eine Wahlbeteiligung
von knapp 50 Prozent sei ganz beacht
lich. «Manche sind vielleicht der Mei
nung, man müsse einen fahrenden Zug
nicht anschieben.»
Mitmachen ist für den Wahlkritiker
Van Reybrouck allerdings entschei
dend. Das gelte erst recht bei seinem
Parlament, das per Los gewählt wird.
Auslosen sei ein urdemokratischer
Deutschland:
Proteste gegen
Kanzlerin Angela
Merkel, Berlin
«Unsere Demokratie lässt sich allzu oft von
wirtschaftlich Mächtigen in die Schranken weisen.»
Ueli Mäder, ehemaliger Soziologieprofessor
32 Beobachter 19/2019