Beobachter - 13.09.2019

(nextflipdebug5) #1
Stimm- und Wahlrecht zu digitalisieren
und an Algorithmen zu delegieren.
Trotzdem gibt es Handlungsbedarf.
Hidalgo ist nicht der einzige Kritiker. Die
westlichen Demokratien stehen in letz-
ter Zeit unter Dauerkritik. Vor einigen
Mo naten wählten die Ukrainerinnen
und Ukrainer einen Komiker zum Prä-
sidenten, zuvor gab es Trump, den Bre-
xit, die Cinque Stelle, den Aufstieg der
AfD. «Protestwahlen», fanden die Kom-
mentatoren einhellig. Die Bürgerinnen
und Bürger seien unzufrieden, fühlten
sich durch die Parteien nicht mehr
repräsentiert. Wie in Frankreich, wo die
Wut der Gelbwesten weitersimmert.
Die Bevölkerung werde nicht wirk-
lich vertreten, der Unmut sei berechtigt,

findet auch der belgische Historiker
David Van Reybrouck. In seinem Buch
«Gegen Wahlen» weist er nach, dass
Wahlen und Wahlrecht von Beginn weg
ein Mittel waren, um die «Herrschaft
des Volkes» zu verhindern. Die ameri-
kanischen Gründerväter etwa hätten
sehr genau darauf geachtet, wer wählen
und wer gewählt werden darf: keine
Armen, keine Frauen, Sklaven und Ur-
einwohner sowieso nicht – nur die
weisse, männliche Elite, die Land be-
sass und Steuern entrichtete.

Mitbestimmung nur für wenige. Die
Demo kratie gab es im jungen Amerika
also gerade mal für ein paar wenige Pro-
zent der Bevölkerung. Das Wahlrecht

wurde im Lauf der Jahre zwar auf
immer neue Bevölkerungs teile aus-
geweitet, aber die alten Mechanismen
spielen bis heute, ergab eine viel
beachtete Studie zweier US-Politologen
von 2014. Ihr Fazit: «Mehrheitsverhält-
nisse haben in der amerikanischen
Öffentlichkeit wenig Einfluss auf die
Politik, die unsere Regierung umsetzt.»
Wenn sich die Mehrheit der US-Bürge-
rinnen und -Bürger und die Wirtschafts-
elite uneins sind, haben Erstere meis-
tens das Nachsehen – selbst wenn sie
eine grosse Mehrheit bilden. Amerikas
Anspruch, eine demokratische Gesell-
schaft zu sein, sei ernsthaft bedroht.
Demokratiekritiker David Van Rey-
brouck möchte deshalb Wahlen ab-

POLITIK. Unzufriedenheit grassiert in westlichen Demokratien. Protestwahlen sind zur Regel geworden. Es ist Zeit, über unkonventionelle Ideen nachzudenken. TEXT: BALZ RUCHTI


England: Proteste
gegen Premier
Boris Johnson,
London

noch zu retten?


Beobachter 19/2019 31
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