Beobachter - 13.09.2019

(nextflipdebug5) #1

I


ch kann Sie gut verstehen. Seit Ihr Mann
vor einem halben Jahr seine Stelle verloren
hat, lastet ein enormer Druck auf Ihnen. Die
Nachtwachen bei Ihrer Arbeit im Pflegeheim,
die beiden Kinder, der Haushalt, die finanziellen
Sorgen und schliesslich das Gefühl, mit allem
allein zu sein. Sie beschreiben, wie sich Ihr
Mann nach der unerwarteten Entlassung
immer mehr zurückzog, mehr und mehr trank,
immer gereizter wurde. Und Sie jeweils am
liebsten geschrien hätten, wenn Sie nach der
Nachtwache morgens nach Hause kamen und
er ein Chaos hinterlassen hatte.
Und dann eben dieser Moment, als Sie ihn
am Morgen nicht wecken konnten, neben ihm
die leere Schmerztablettenpackung fanden,
die Kinder schlafend im Zimmer nebenan. Da
würden sich die meisten fragen, ob ihm denn
Sie und die Kinder nicht genug bedeuten.
Ich arbeite häufig mit Menschen, die suizidal
sind oder einen Suizidversuch gemacht haben,
und weiss von daher, wie es vielleicht aus Sicht
Ihres Mannes aussah. Diese Sicht kann völlig
falsch sein, aber sie wäre eine, wie ich sie häu­
fig erlebe: Lebensmüde war er nicht.
Doch er war leidensmüde. Schon wieder
eine Absage, die 29. war es. Irgendwie versank
er immer mehr im Sumpf. Nächtelang wälzte er
sich, dachte an den Moment zurück, als er zum
Chef gerufen wurde. Restrukturiert habe man,
und er war eben erst zwei Jahre da. Es war wie
ein Film im Endlosmodus. Der Lichtblick waren
die Kinder. Manchmal auch einfach Ihre sanfte
Haut und Wärme zu spüren, das hielt ihn über
Wasser. Doch es wurde immer schwieriger.

Er sah sich als Last. Mit jeder Woche versank er
tiefer im Sumpf, und es brauchte mehr und
mehr Bier, um das Kopfkino zu stoppen. Er
merkte ja auch, wie er zunehmend zur Last
wurde für Sie. Manchmal dachte er für sich,
dass, wenn das nicht besser werde, dann ...
Bei diesen Gedanken fühlte er sich dann aber
jeweils als noch schlechterer Mensch.
Und irgendwann kippte es. Er hielt dieses
innere Loch in der Brust nicht mehr aus. Und
war plötzlich überzeugt, dass er für alle so
zur Last geworden war, dass es allen besser
gehen würde ohne ihn, dass die Kinder doch
jemanden verdient hätten, der liebevoll mit

ihnen spielt – und Sie jemanden, der mitträgt
und Ihnen etwas bieten kann.
Menschen, die einen Suizidversuch machen,
haben in der Regel einen Tunnelblick. Ihre
Perspektive ist sehr eingeengt, sie sehen keine
Lösungen mehr, nur noch Probleme. Und sie
haben meist einen inneren Schmerz, der nicht
mehr auszuhalten ist. Am häufigsten leiden sie
an Depressionen. Bei mittelgradigen Depres­
sionen haben die meisten Gedanken, dass sie
einen solchen Zustand nicht sehr viel länger
aushalten können. Bei schweren Depressionen
sind Suizidgedanken die Regel. Im Tunnel
sieht und vor allem spürt man seine Liebsten
nicht mehr, auch wenn man sie sonst innig
liebt und sie das Wichtigste der Welt sind.

Plötzlich wieder Lebenswille. Es gibt Menschen,
die einen Sprung von der Golden­Gate­Brücke
überlebten. Sie berichten alle fast dasselbe, vom
inneren Schmerz, vom Tunnelblick, vom Gefühl,
für alle eine Last zu sein – und zwei Sekunden
nach dem Sprung der Klick, das plötzliche
Aufwachen aus einer Art Trance. Dann war er
plötzlich wieder da, der Überlebenswille.
Seien Sie also vorsichtig mit Interpretationen.
Suchen Sie das gemeinsame Gespräch mit
ihm und dem Personal in der Klinik, wo er
nun ist. Er braucht aber vielleicht etwas Zeit,
seine Depression muss abklingen, damit er
überhaupt erklären kann, was wirklich war.
Geben Sie ihm einen Vertrauensvorschuss.
Er hat es höchstwahrscheinlich nicht «gegen»
Sie getan, sondern auf eine paradoxe Art «für»
Sie und gegen sich. Sie haben aber auch Grund,
wütend zu sein – auf die Situation. Dass Sie
eine so grosse Last ganz allein tragen müssen,
ist nicht fair. Einen 90 Kilogramm schweren
Rucksack kann man nicht lange allein tragen.
Die Last muss verteilt werden. Ihr Mann erhält
nun Unterstützung in der Klinik. Sie haben
sie auch zugute. Sprechen Sie vor allem auch
darüber mit dem Klinikpersonal.

Haben Sie psychische
oder soziale Probleme?
Schreiben Sie an:
Thomas Ihde,
Beobachter, Postfach,
8021 Zürich;
thomas.ihde@
beobachter.ch


Mein Mann hat einen Suizidversuch


unternommen. Dabei haben wir doch


kleine Kinder. Ich kann ihm einfach


nicht verzeihen. Liebt er uns nicht?


PSYCHOLOGIE


Facharzt für
Psychiatrie und
Psychotherapie FMH
sowie Präsident
von Pro Mente Sana


Thomas Ihde,


«Man spürt


seine


Liebsten


nicht mehr,


auch wenn


man sie


innig liebt.»


Anlaufstellen: Hier finden Sie Hilfe
Diese Angebote sind schweizweit rund um die Uhr
für Menschen in suizidalen Krisen und ihr Umfeld da –
vertraulich und kostenlos:
„Dargebotene Hand: Telefon 143, http://www.143.ch
„Pro Juventute für Kinder und Jugendliche: Telefon 147,
http://www.147.ch

Beobachter 19/2019 69

RATGEBER

Free download pdf