Der Stern - 12.09.2019

(Sean Pound) #1


FOTO: DANIEL SCHREIBER/STERN

Konsumgüter
WMF Group, Geislingen

Ihre Kochtopf-Fertigung soll aus dem
Stammwerk nach Südeuropa verlagert
werden. „Vermutlich geht es um die
Streichung von 250 Arbeitsplätzen“,
sagt Betriebsrat Hüseyin Öncü. „Die
Menschen dahinter sind offenbar egal.
Es hängen so viele Schicksale daran,
Menschen, die Kinder haben, die ihr
Haus abbezahlen müssen und nun
arbeitslos werden sollen. Unter dem
Motto ‚Mondays for Jobs‘ demonstrieren
wir jetzt, zuletzt mit 350 Leuten.
Wir hoffen, die Geschäftsleitung zum
Umdenken bewegen zu können.“

Noch wissen


wir nicht, wer


betroffen ist“


wenn sie die Politik rechtzeitig zum
Gegensteuern anregen.“
Gemeinsam begeben sich die Forscher
in ihrer ersten informellen Runde auf die
Suche nach der wirtschaftlichen Wahrheit.
Und die ist schwerer als gedacht, denn die
Daten sind diesmal ziemlich widersprüch­
lich. Und Ökonomie ist keine Natur­
wissenschaft mit Gesetzen, die, einmal be­
wiesen, immer gültig sind.
„Die Welt ist seit der letzten Krise von
2008 eine andere geworden“, sagt Professor
Jens Boysen­Hogrefe, der Stellvertreter von
Kooths, zuständig für die öffentlichen
Finanzen. „Alte Gewissheiten sind weg:
Damals waren Zinsen unter null bei gleich­
zeitig geringer Inflation einfach nicht
vorstellbar.“ Heute können sich der Staat
und sogar einige Unternehmen wie Sie­
mens Geld auf den Kapitalmärkten leihen,
mit dem Versprechen, in ein paar Jahren
etwas weniger wieder zurückzuzahlen.
Was irre klingt, macht Sinn für denje­
nigen, der an den Niedergang glaubt und
sein Geld möglichst sicher wissen will. Die
Zeiten, in denen Marius Müller­Western­
hagen singen konnte: „Ich glaube an die
Deutsche Bank, denn die zahlt aus in bar ...“
sind eben seit der Finanzkrise vorbei. We­
nigstens die Bundesrepublik, so der Glau­
be mancher Anleger, bleibt zahlungsfähig.
Und wenn Siemens pleitegeht? Dann ist eh
alles egal.
Solche Negativzinsen sind ein schlechtes
Zeichen, und sie wirbeln die Prognosemo­
delle der Forscher gehörig durcheinander.
Auch eine weitere Institution, von den
Forschern ehrfürchtig „das Amt“ genannt,
bietet wenig Hilfe. Denn nicht einmal die
Zahlen, auf die sich die Forscher in ihrer
Prognose vor drei Monaten noch bezogen
haben, sind sicher. „Das Statistische Bun­
desamt hat seine Daten für das vergangene
Jahr korrigiert“, stellt Stefan Kooths gleich
zu Beginn der Runde nüchtern fest. „Wir
wissen jetzt: Der Abschwung hat schon
Anfang 2018 eingesetzt. Seitdem schwächelt
die Wirtschaftsleistung oder geht sogar
leicht zurück.“ Das war eine Überraschung.
„Die Lohnkosten sind in den vergangenen
Jahren kräftiger gestiegen, als bisher be­
kannt war“, ergänzt Dominik Groll, der
Arbeitsmarktexperte im Team.
Konkret heißt das: Unser Bruttoinlands­
produkt (BIP), der Wert aller in Deutsch­
land produzierten Waren und Dienstleis­
tungen, stagniert seit Ende 2017 mehr oder

weniger. Mal ging das BIP in einem Quar­
tal etwas hoch, dann wieder runter. Fällt es
zwei Quartale hintereinander, spricht man
von einer Rezession. Und genau die könn­
te Ende September erklärt werden, wenn
die Zahlen für das dritte Quartal vorliegen.
Einen Anstieg erwartet hier kaum einer.
„Wir hatten einen langgestreckten Auf­
schwung, der allmählich zu einer Überhit­
zung geführt hat“, erklärt Stefan Kooths in
seiner ersten Analyse. „Jetzt haben wir mit
der Abkühlungsphase den ersten Teil des
Abschwungs hinter uns. Wichtiger als
Quartalszuwächse sind die Kapazitätsaus­
lastungen der Unternehmen: Zu wenig ist
nicht gut, zu viel aber auch nicht. Die Über­
auslastung geht seit eineinhalb Jahren
zurück und hat sich jetzt im Schnitt nor­
malisiert. Allerdings bieten die Branchen
kein einheitliches Bild.“

M


it ausgelasteten Kapazitäten
kennt Trockenbauer Jan Nöhre
aus Bergisch Gladbach sich aus:
„Ganz ehrlich: Manchmal schie­
be ich E­Mails mit Anfragen
einfach weg“, sagt er. Der Grund
ist der Mangel an qualifizierten Arbeits­
kräften nach dem langen Boom. Der
Arbeitsmarkt ist gerade in der zyklischen
und körperlich herausfordernden Baubran­
che leer gefegt. Das verhindert Wachstum:
„Eine Expansion ist automatisch geblockt,
weil es keine Leute mehr gibt, die ins Unter­
nehmen kommen wollen“, sagt Nöhre.
„Bislang ist nur die klassische Industrie
vom Rückgang bei Auslastung und Bestel­
lungen betroffen“, sagt Klaus­Jürgen Gern
in die Kieler Runde. „Die Frage ist: Bleibt
das so?“ Er ist beim IfW zuständig für
die internationalen Entwicklungen – oder
besser: Verwicklungen – angesichts der
vielen Populisten und Diktatoren, die
momentan den Welthandel erschweren.
„Twitternachrichten sind plötzlich ökono­
mische Einflussgrößen“, sagt sein Kollege
Boysen­Hogrefe. „Die Halbwertszeit der
auf einen Mix aus Drohgebärden und
Selbstdarstellung angelegten Tweets eines
Donald Trump ist für uns Prognostiker ein
ganz neues Arbeitsfeld.“
Die Prognosen der Forscher entfernen
sich damit ein gutes Stück von den Zahlen
und Daten, mit denen sie sonst umgehen.
Etwas Unberechenbares steckt im kom­
menden Abschwung. „Wir werden den
Übergang zur Rezession erleben“, stellt

14,3 %


stiegen in Deutschland
die Baupreise für
Wohngebäude seit 2015

32 1 2.9. 20 19
Free download pdf