Der Stern - 12.09.2019

(Sean Pound) #1
FOTO: BEN KNABE/WDR

Wenn die Kerze in der Nische am Treppenabsatz in
St. Hildegard brennt, geht jeder noch ein bisschen
leiser über die Stufen: Es ist jemand gestorben. Dafür
kommen Menschen hierher – um zu sterben oder um
Menschen zu begleiten, die hier sterben. Für drei Tage
durfte ich Gast sein in diesem Haus, in einem der ältes-
ten Hospize in Deutschland. Aus einer alten Bochumer
Industriellenvilla wurde hier ein Ort der Menschen-
würde gemacht. Und der Gerechtigkeit. Denn sterben
müssen wir alle.
Mich hat diese Begegnung mit dem Tod verändert. Im
Medizinstudium wurde ich sechs Jahre lang betankt
mit Fakten über Anatomie, Biochemie und Medikamen-
tenkunde. Letztendlich kann Tatsachenwissen nieman-
den retten vor dem Tod. Mit dieser brutalen Einsicht
aber wurden wir als zukünftige Ärzte nie ernsthaft
konfrontiert. Sterben war: Betriebsunfall, Nebenwir-
kung. Und für manche gar eine Beleidigung der ärzt-
lichen Kunst. Starb einer, hatte er sich nicht an all die
klugen Ratschläge und Therapiepläne gehalten. Der Tod
also, das war etwas, das es mit allen Mitteln zu verhin-
dern galt.
Er war der Feind. Die ganze Metaphorik um den Krebs
etwa hat Kampf zum Motiv. Arzt und Patient gewinnen
oder verlieren. Ich finde das falsch. Ein Mensch, der
stirbt, ist nicht per se ein Verlierer. Und wir werden
diesen „Kampf“ auch nicht (wie seit 30 Jahren stets
behauptet) in den nächsten fünf Jahren „gewinnen“:
Krebs ist vor allem auch eine Alterserscheinung. Wenn
wir älter werden, heißt das auch: Mehr Menschen ster-
ben mit Krebs, aber nicht automatisch an Krebs.
In St. Hildegard merke ich, wie mir mein antrainier-
tes Wissen nicht – aber so was von gar nichts! – hilft:
Ich möchte, bevor ich hier jemanden wirklich kennen-
lerne, immer erst dessen Diagnose wissen. Was „hat“
denn wohl dieser Mensch? Was mag schiefgelaufen sein
in seiner Biologie?
Mal um Mal erlebe ich, dass diese Fragen außer mir
hier niemanden groß interessieren. Schwester Denise
lächelt mich an, mit einer Mischung aus Mitleid und
Verständnis. Jahrelang hat sie auf einer Intensivstation
gearbeitet, bis sie den radikalen Schritt machte, Men-
schen ohne Schläuche zu pflegen. Und sich intensiv auf
sie einzulassen. Sie ist eine gute Lehrerin und schickt
mich ohne Krankengeschichte ins Zimmer. „Entspann

dich, das ist hier alles nicht mehr so wichtig. Begegne
dem Menschen doch einfach so, wie er ist.“
Immerhin habe ich ja alle meine Sinne dabei, sie soll-
ten reichen für das, was hier offensichtlich zählt: nicht,
was ein Mensch „hat“, sondern, was er ist. Was er braucht,
sich wünscht, was jetzt noch wichtig ist. Es geht im Hos-
piz um Begegnung, um Würde, um Echtheit. Menschen,
die wissen, wie kostbar die ihnen verbleibende Zeit ist,
haben auf anderes wohl keine Lust mehr.
Seltsam, in fast jedem Krankenhaus laufen, an der
Wand angeschraubt, rund um die Uhr Fernseher. An-
geschraubt, damit sie niemand klaut. An der Wand,
damit niemand über Kabel stolpert. Und gegenüber dem
Patientenkopf, auf dass der Kopf beschäftigt sei.
Im Hospiz habe ich nur einen Fernseher gesehen, in
einem Gemeinschaftsraum. Die drei Tage über war er
jedenfalls nicht an. Ich muss an eins meiner Lieblings-
bücher denken: „Wir amüsieren uns zu Tode“. Darin be-
schreibt der amerikanische Medienwissenschaftler Neil
Postman, wie uns die Fernbedienung suggeriert, jede
Realität, die uns nicht passt, wegzuzappen. Paradoxer-
weise bin ich selbst aber ja auch fürs Fernsehen hier;
und darum heilfroh, dass ich ein vertrautes Drehteam
dabei habe, das die Kunst beherrscht, sich unsichtbar
zu machen – und die Menschen, denen wir hier so nahe
kommen dürfen, nicht zu bedrängen, sondern ihnen das
Gefühl zu geben, dass sie wahrgenommen werden. Man-
che blühen auf, wenn sie erzählen und jemand zuhört.
Denn lange vor dem körperlichen Tod kommt für viele
Menschen in Deutschland der soziale. Die Einsam-
keit, das Nicht-mehr-gebraucht-Werden. Ich erlebe, wie
Menschen ihre letzte Krankheit als Befreiung ver-
stehen. Niemandem mehr gefallen müssen, keine
Lust mehr auf Fassade. Das schafft Raum für Humor,
fürs Lachen, für Leichtigkeit.
Wenn jemand rauchen will, stellt sich niemand hin und
sagt: Das ist aber schlecht für Ihre Gesundheit. Wer stirbt,
darf rauchen. Hier wird nicht mehr erzogen, sondern ver-
wöhnt. Und diese Art von Zuwendung ist vielleicht das,
worauf Menschen ein Leben lang gewartet haben.
Hospize brauchen Spenden, auch wenn sich ihre
Situation durch feste Vereinbarungen mit den Kassen
deutlich verbessert hat. Es war ein langer Weg, seit in
England Dame Cicely Mary Strode Saunders, eine Kran-
kenschwester, Sozialarbeiterin und Ärztin, 1967 das

W


EIN HAUS DER WÜRDE


Eckart von Hirschhausen beschreibt, wie die Hospiz-Bewegung


seinen Blick auf das Sterben verändert hat


GESELLSCHAFT


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