Der Stern - 12.09.2019

(Sean Pound) #1
Hatten Sie eine gefährliche Kindheit,
Frau Strüber?
Ich bin mit einem Vater aufgewachsen,
der im Krieg traumatisiert wurde – und
so etwas ist nicht ungefährlich.
Was hat Ihr Vater erlebt?
Als es in Bremen mit den Bombardierun-
gen losging, war er um die drei Jahre alt und
über Nacht bei einer Kinderfrau unterge-
bracht. Seine Mutter, meine spätere Groß-
mutter, hatte Spätdienst als Köchin. Sie
flüchtete direkt in den Luftschutzbunker,
dachte, die Kinderfrau hätte den Kleinen
dorthin mitgenommen. Das war aber nicht
so. Die Kinderfrau hatte ihn nach Hause
gebracht und ihn dort allein zurückge-
lassen, während die Bomben fielen. Meine
Großmutter raste mit dem Fahrrad durch
das Inferno, um ihn zu holen, auf dem
Rückweg saß er auf dem Gepäckträger.
Er soll Schreckliches erlebt und gesehen
haben.
Was waren die Folgen?
Als ich klein war, war ich mit den Angst-
zuständen meines inzwischen verstor-
benen Vaters konfrontiert. Dazu gehörte
seine Weigerung, sich in geschlossenen
Räumen aufzuhalten oder Veranstaltun-
gen zu besuchen. Wir drei Schwestern be-
kamen seine Verzweiflung mit und natür-
lich auch sein ... ich sage es mal vorsichtig:
aufbrausendes, nicht immer reflektiertes
Verhalten uns Kindern gegenüber.
Was machte das mit Ihnen?
Einen Elternteil mit einer psychischen
Erkrankung zu haben ist nachweislich ein
Risiko für die seelische Entwicklung eines
Kindes. Wichtig ist dann, dass es andere

H


Menschen gibt, die die Belastung aus-
gleichen. Ich hatte das Glück, dass meine
Mutter und meine älteren Schwestern das
taten. So beeinflusste die Erfahrung mit
meinem Vater wohl vor allen Dingen mei-
nen beruflichen Weg. Ich fragte mich schon
als Kind oft: Was hat er nur? Warum müs-
sen wir die Treppe laufen, anstatt im Fahr-
stuhl zu fahren? Was passiert in seinem
Kopf? Das hat mich nicht losgelassen. Dazu
passend bin ich Neurowissenschaftlerin
geworden.
Sie haben gerade ein Buch geschrieben,
das sich mit dem „Risiko Kindheit“ be-
fasst. Es liest sich wie ein Appell: Gebt
acht in der sensiblen Zeit, in der sich
das Stresssystem in den Köpfen von
Kindern bildet.
Da kann tatsächlich viel schiefgehen. Schon
früheste Erfahrungen beeinflussen die Ent-
wicklung dieses Stresssystems. Wenn eine
Schwangere hochgradig belastet oder trau-
matisiert ist, werden in ihrem Körper mehr
Stresshormone freigesetzt. Und die können
das Kind epigenetisch prägen und bestim-
men, mit wie vielen Stresshormonen es
später selbst auf Belastungen reagiert.
Schwangere sollten das wissen. Aber auch
die dazugehörigen Väter und andere Men-

schen, denen es möglich ist, die werdende
Mutter zu unterstützen.
Den Begriff „Epigenetik“ verbinden
viele vor allem mit einer Frage: Kann
es sein, dass Erfahrungen biologisch
weitervererbt werden – Traumata oder
Ängste wie die Ihres Vaters?
Bei der großen Diskussion um die Ver-
erbung von Traumata gerät manchmal in
den Hintergrund, was Epigenetik in erster
Linie bedeutet: dass Erfahrungen etwas
mit dem eigenen Erbgut machen können.
Sie können zu Markierungen führen, die
bestimmte Gene an- oder abschalten. Das
hat einen wesentlichen Einfluss darauf, wie
gut das Stresshormon Cortisol oder auch
Stoffe wie Oxytocin wirken. Diese Stoffe
prägen unsere Persönlichkeit entschei-
dend. Sind bei jemandem, der sehr früh
sehr viel Stress erlebt hat, bestimmte Gene
ausgeknipst, dann kann dieser Mensch
lebenslang empfindlicher auf Stress rea-
gieren als andere.
Kann dieser Mensch seine Empfindlich-
keit dann tatsächlich an seine Kinder
vererben?
Ob das in dem Sinne geht, dass Menschen
mit einer behüteten Kindheit Spuren
von den Traumata ihrer Vorfahren in den

Interview: Nina Poelchau


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