Der Stern - 12.09.2019

(Sean Pound) #1
Keimzellen tragen – das weiß man noch
nicht. Sicher ist bisher nur, dass die Aus-
wirkungen traumatischer Erfahrungen
von einer Generation auf die nächste über-
gehen können.
Zumindest in Tierversuchen wurde
nachgewiesen, dass ein Verhalten völlig
unabhängig vom sozialen Einfluss der
Eltern in die nächste, vielleicht auch
übernächste Generation übergeht.
Das Problem mit Tierversuchen ist, dass
sie sich nicht einfach so auf den Menschen
übertragen lassen. Aber sie geben durch-
aus Hinweise, was vielleicht auch bei
Menschen stattfindet. Das hier ist für uns
Forscher bemerkenswert: In einem Ver-
such mit Mäusen lernten die Tiere, dass ein
bestimmter Geruch immer mit einem mil-
den Schmerz an den Pfoten verbunden war.
Die Mäuse erschraken bald bereits, sobald
sie den Geruch wahrnahmen. Und diese
Furcht wurde an die Kinder- und Enkel-
generation weitergegeben, ohne dass die
Tiere jemals selbst die Erfahrung gemacht

hätten, dass der Geruch mit Gefahr ver-
bunden war. Das Gen für einen bestimm-
ten Geruchsrezeptor war bei ihnen epige-
netisch anders markiert als bei Mäusen aus
einer Vergleichsgruppe.
Stresserkrankungen sind eine der größ-
ten Herausforderungen unserer Zeit.
Etwa ein Viertel der Deutschen hat min-
destens einmal im Leben mit ernsten
psychischen Problemen zu tun. Forscher
haben herausgefunden, dass es in der
frühen Kindheit besonders sensible
Phasen gibt, in denen die Grundlagen für
diese Erkrankungen gelegt werden.
Die ersten beiden Lebensjahre gelten in
dieser Hinsicht als auffallend wichtig. Er-
fahrungen von Nähe, Zuwendung, feinfüh-
liger Fürsorge und sozialer wie kognitiver
Stimulation haben da einen immensen
Einfluss auf das Gehirn. Aus bildgebenden
Untersuchungen weiß man, dass in dieser
Zeit weitreichende Umbauarbeiten an den
Synapsen stattfinden. Nervenzellverbin-
dungen, die immer wieder genutzt werden,
stabilisieren sich. Solche, die nie angespro-
chen werden, baut der Körper ab.
Was passiert denn im Gehirn bei Stress?
Eine zentrale Rolle spielt Cortisol. Dieses
Hormon wird von jedem Menschen gebil-
det. Morgens gibt es, wenn alles nach Plan
läuft, einen Peak – der lässt uns mit Ener-
gie in den Tag starten. Auch wenn wir stark
gefordert sind, wird eine zusätzliche Por-
tion Cortisol ausgeschüttet. Das lässt uns
fokussiert sein, es versetzt uns in die Lage,
ein Problem zu lösen. Danach sinkt der
Spiegel wieder auf Normalmaß ab.
Und wenn das Stresssystem nicht gut
funktioniert?
Dann ist der Pegel dauerhaft zu hoch oder
zu niedrig. Wenn er zu hoch ist, steht das
Stresssystem unter ständigem Alarm. Ei-
nige Formen von Depressionen oder auch
Angststörungen werden häufig von einer
solchen Überfunktion begleitet. Ganz
schlimme frühkindliche Erfahrungen, in
denen es zum Beispiel keinen Ausweg aus
Misshandlung oder Missachtung gab, ge-
hen immer wieder mit einer Unterfunk-
tion einher. Die kann zur Folge haben, dass
die betroffenen Menschen sich emotio- 4

Manchmal werden Traumata
von Generation zu Generation
weitergegeben – aber das
muss nicht so sein. Nicole Strüber,
ganz links als Sechsjährige
mit ihrem Vater, erlebte als
Kind mitunter dessen Ängste.
Sie ist dankbar, dass ihre
eigenen Kinder unbelastet
aufwachsen können

ERFAHRUNGEN


KÖNNEN ETWAS


MIT DEM


ERBGUT


MACHEN“


1 2.9. 20 19 83
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