Leonardo da Vinci ist vor allem als Ausnahme
künstler in Erinnerung geblieben – einige seiner
Gemälde gehören zu den berühmtesten der Welt.
Weniger bekannt ist, dass er sich als Naturforscher
optische Regeln für sein Schaffen erarbeitet hat. Die
meisten davon sind noch heute gültig, 500 Jahre nach
seinem Tod. Mit Hilfe seiner physikalischen Einsichten
verlieh er beispielsweise der Mona Lisa über die bloße
realistische Abbildung hinaus eine große Lebendigkeit,
wie sie bis dahin in der Malerei nicht anzutreffen war.
So nutzte Leonardo auf einfühlsame Weise Lichteffek
te auf dem Körper und dem Gewand. Er forderte, Schat
ten »sollen nie so beschaffen sein, dass durch ihre Dun
kelheit die Farbe an dem Ort, wo sie entstehen, ganz
verloren geht«. Man dürfe keine scharfen Umrisse ma
chen und keine weißen Lichter setzen außer auf weiße
Dinge. Darüber hinaus nutzte er einen Aspekt der Farb
perspektive, der in dem typischen Blauschimmer ferner
Objekte zum Ausdruck kommt: »Ein sichtbarer Gegen
stand wird seine wirkliche Farbe in dem Maße weniger
zeigen, in dem das zwischen ihn und das Auge einge
schobene Mittel an Dicke der Schicht zunimmt. Das
Mittel zwischen dem Auge und dem gesehenen Gegen
stand wandelt die Farbe dieses Gegenstandes zur seini
gen um.« Er erkannte, dass Wechselwirkungen des
weißen Sonnenlichts beim Durchgang durch eine größe
re Luftschicht eine Blautönung bewirken. Damit war er
seiner Zeit weit voraus. Erst der britische Lord Rayleigh
konnte Ende des 19. Jahrhunderts das Himmelsblau
erklären. Doch bereits Leonardo hatte den richtigen
Ansatz: Der Himmel wird deshalb hell und blau, weil
»winzige und unsichtbare Atome es streuen«. Er täuschte
sich nur darin, dass er Wasserteilchen in der Luft für die
Ursache hielt und nicht die Luft selbst.
Jedem Pinselstrich gingen praktische und
theoretische Erkenntnisse voraus
So physikalisch durchdacht und natürlich zugleich hat
vor Leonardo wohl keiner gemalt. Er versuchte, auf Basis
seiner experimentellen und theoretischen Erkenntnisse
den statischen und eingefrorenen Charakter eines Gemäl
des zu überwinden. Martin Kemp, ein britischer Kunst
historiker und Experte für da Vincis Werk, betont, dessen
Technik weise Ähnlichkeiten mit den Computersimu
lationen unserer Tage auf, die natürlich wirkende Land
schaften generieren. Auch dabei spielt es eine zentrale
Rolle, alle physikalischen Gesetzmäßigkeiten zu erfassen,
die zum visuellen Eindruck des Bilds führen. Kemp zufol
ge veranschaulichen Leonardos Studien von Licht, das
von einer punktförmigen Quelle ausgehend die Konturen
eines Gesichts trifft, »dass es ihm darum ging, mittels
eines Systems, das dem der Strahlenaufzeichnung in der
Computergrafik entspricht, modellierte Formen zu er
zeugen«.
Grundlage der optischen Vorstellungen Leonardos ist
das euklidische Modell, wonach sich Licht strahlenför
mig, geradlinig und radial in alle Richtungen ausbreitet.
Dabei entwickelt er die Erkenntnisse des griechischen
Mathematikers weiter und geht davon aus, dass wir
Gegenstände sehen, weil das von ihnen ausgesandte
Licht in unsere Augen fällt. Für den Künstler sind alle
Dinge Lichtquellen. Sie werden dazu, weil sie selbst im
Licht anderer Quellen wie der Sonne, des Himmels oder
einer Kerzenflamme stehen, deren Schein sie diffus oder
spiegelnd reflektieren.
Ausgesprochenes Augenmerk richtet Leonardo auf die
Schatten. Er sieht sie ganz allgemein als Unterdrückung
von Licht. Zusammen mit diesem gestalten sie die drei
dimensionale Erscheinung: »Der Schatten ist das Mittel,
durch das die Körper ihre Form offenbaren.« Dabei macht
er insbesondere auf die Abnahme der Flächenhelligkeit
mit dem Einfallswinkel aufmerksam. Erst im 18. Jahrhun
dert beschrieb der Mathematiker Johann Heinrich Lam
bert die Entdeckung im »lambertschen Kosinusgesetz«
quantitativ.
Leonardo zufolge tragen die von einem Gegenstand
ausgehenden Lichtstrahlen die gesamte optische Infor
mation von dessen Oberfläche: »Jeder Körper füllt die
umgebende Luft mit seinem Ebenbild, welches das
Ebenbild im Ganzen und in allen Teilen ist. Die Luft ist voll
unendlich vieler gerader und strahlenförmiger Linien, die
Die vielen Abbilder eines
beleuchteten Gegenstands
überlagern sich auf einer
dahinterliegenden Wand, und
es ist kein Bild zu erkennen.
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT, NACH: H. JOACHIM SCHLICHTING
Wenn die Strahlen durch ein
kleines Loch fallen, werden die
Zuordnungen eindeutig.