Spektrum der Wissenschaft - 05.2019

(Sean Pound) #1

einander überschneiden und miteinander verwoben sind
und die jedwedem Ding die wahre Form ihres Ausgangs­
punktes darstellen.«
Diese konsequente Weiterentwicklung des euklidi­
schen Strahlenmodells des Lichts erklärt zum Beispiel,
warum an einer weißen Wand kein Abbild eines davor­
stehenden farbigen Gegenstands zu sehen ist. Denn das
Licht eines jeden Punkts des Gegenstands gelangt zu
jedem Punkt der Wand. Daraufhin überlagern und mi­
schen sich die Farben und die Helligkeiten (siehe Illustra­
tion S. 65, oben). Nur wenn die Lichtstrahlen durch ein
sehr kleines Loch fallen, ist die Zuordnung zwischen den
Punkten des Gegenstands und der Wand eindeutig.
Leonardo erkennt das und bewundert, wie »schon verlo­
rene, in einem so kleinen Raum verschmolzene Formen
bei seiner Erweiterung wieder hervorgebracht und neu
gebildet werden können«. Mit »Erweiterung« meint der
Künstler ein Loch in der Wand, durch welches das Licht
in einen benachbarten Raum fällt. Er fragt sich zudem,
warum »aus verschwommenen Ursachen so deutliche
und klare Wirkungen hervorgehen«, und bemerkt, dass
die Bilder dann immer auf dem Kopf stehen: »Es ist
unmöglich, dass die Bilder, die durch Löcher in einen
dunklen Raum dringen, nicht umgekehrt erscheinen.«
Leonardo hat das Prinzip der Camera obscura als wesent­
liches Element der optischen Abbildung ausgemacht und
in ausgeklügelten Modellexperimenten auf das menschli­
che Auge angewandt. So gelangte er zu einer im Wesent­
lichen korrekten Erklärung des Sehens.


Synthese von Beobachtung und Theorie
In diesem Zusammenhang spricht Leonardo auch ein
Naturphänomen an, das heute als Sonnentaler (siehe
Foto S. 64) bezeichnet wird: »Geht der Lichtstrahl durch
einen Spalt von besonderer Form, so wird nach langem


Weg das durch seinen Anprall geschaffene Abbild dem
leuchtenden Körper gleichen, von dem er kommt.« Das
heißt, die »besondere Form« des Spalts hat bei der Abbil­
dung keinen Einfluss, sofern der Abstand groß ist. Eine
endgültige physikalische Erklärung gelingt erst ein Jahr­
hundert später Johannes Kepler mit der entscheidenden
Idee, eine ausgedehnte Lichtquelle als Ensemble unend­
lich vieler Punktlichtquellen aufzufassen.
Als Forscher konnte Leonardo seine Malerei vervoll­
kommnen. Umgekehrt kamen seine künstlerischen
Fähigkeiten – insbesondere die der genauen Beobach­
tung – seinen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen
zugute. Die von ihm gezeichneten Studien waren nicht
bloß eine genaue Abbildung eines Gegenstands, sondern
vielmehr eine Synthese von Beobachtungen und theoreti­
schen Konstruktionen. Beispielsweise verband er in einer
Zeichnung oft subtil unterschiedliche Perspektiven, um
die wesentlichen Elemente hervorzuheben.
Auf diese spezielle Weise blickte Leonardo auch auf
Alltagsphänomene. Ihm war etwa klar, dass trotz der häu­
fig täuschenden Ähnlichkeit zwischen Original und Spie­
gelbild auf dem Wasser eine grundsätzliche Asymmetrie
besteht. Er wusste: »Es ist unmöglich, dass das, was auf
dem Wasser gespiegelt wird, die gleiche Gestalt hat wie
der sich spiegelnde Gegenstand, da der Mittelpunkt des
Auges über der Oberfläche des Wassers liegt.« Dieses
Phänomen wird häufig übersehen, obwohl der Effekt oft
sehr deutlich ist, wenn man erst einmal darauf achtet. Bei
seinen Untersuchungen entdeckte er außerdem, dass
»kein glänzender und durchsichtiger Körper auf sich den
Schatten irgendeines Gegenstandes aufweisen kann«.
Als Beispiel nannte er die Schatten von Brücken über
Flüssen, welche man nicht sehen kann, wenn diese klar
sind, sondern »nur, wenn das Wasser trüb ist«.
Vielleicht haben ihn diese Entdeckungen zur folgen­
den, fast wie ein Rätsel klingenden Aussage gebracht:
»Man wird oftmals sehen, wie aus einem Menschen drei

Aus einem
Baum werden
drei – durch
seine Reflexion
und seinen
Schatten auf
einem Fluss.

Reflektiert ein
Gewässer die
Sonne, kann eine
Person zwei
Schatten werfen.

H. JOACHIM SCHLICHTING

H. JOACHIM SCHLICHTING
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