Spektrum der Wissenschaft - 05.2019

(Sean Pound) #1

werden und alle ihm folgen: und häufig verlässt sie
gerade dieser eine, der ähnlichste.« Damit könnte das
Phänomen gemeint sein, dass auf trübem Wasser oder
durch sehr flaches hindurch nicht nur das Spiegelbild
eines Menschen zu sehen ist, sondern auch sein Schat­
ten. Beide fallen nämlich im Allgemeinen nicht zusam­
men (siehe Foto links oben für den Fall eines Baums).
Leonardo nimmt noch das Original hinzu und kommt so
auf drei. Alternativ käme der Doppelschatten eines Men­
schen auf einer Böschung in der Nähe eines Gewässers
in Frage, der zum einen durch die Sonne direkt und zum
anderen durch ihr Spiegelbild entsteht (siehe Foto links
unten).
Sehr konkret und anschaulich spricht er hingegen das
Phänomen von Lichtbahnen auf Wasseroberflächen an,
Schwert der Sonne genannt (siehe » Lichtbahnen über
den Wellen«, Spektrum Juni 2017, S. 58): »Wo immer die
Sonne das Wasser sieht, da sieht das Wasser auch die
Sonne und kann daher überall das Bild der Sonne dem
Auge wiedergeben. Die unzähligen Bilder, die von den
unzähligen Wellen des Meeres gespiegelt werden, weil
die Sonnenstrahlen diese Wellen treffen, sind die Ursache
des fortwährenden und grenzenlos weiten Glanzes über
der Oberfläche des Meeres.« Er notiert zudem die damit
zusammenhängende Beobachtung, dass im leicht gewell­
ten Wasser gespiegelte Gegenstände »immer größer
erscheinen als der Gegenstand außerhalb des Wassers,
von dem sie herkommen«.


Ob irdische Kugel oder Himmelskörper,
die Regeln der Optik gelten für alle
Ähnlich präzise und verständlich formuliert Leonardo,
was es mit den Mondphasen auf sich hat: »Der Mond hat
kein Licht von sich aus, und so viel die Sonne von ihm
sieht, so viel beleuchtet sie.« Wir bekämen unterdessen
immer nur so viel von dieser Beleuchtung mit, »wie
viel davon uns sieht«. Zudem erklärt er das aschgraue
Licht, das oft schemenhaft beim jungen Mond zu sehen
ist und das ihn zu seiner vollen, runden Form ergänzt:
»Seine Nacht empfängt so viel Helligkeit, wie unsere
Gewässer ihm spenden, indem sie das Bild der Sonne
widerspiegeln.« Allerdings sind dafür tatsächlich vor
allem Wolken und andere Licht streuende Flächen der
Erde verantwortlich. Dennoch hat er damit das Phä­
nomen im Prinzip erfasst. Erstaunlicherweise behandelt
er den Mond fast selbstverständlich wie einen in der
Sonne liegenden irdischen Gegenstand. Diese Einsicht
versuchte Galilei 100 Jahre später mit Hilfe des von ihm
konstruierten Fernrohrs durchzusetzen. Bereits Leonardo
dachte an solche Konstruktionen für die Mondbeobach­
tung: »Verfertige Augengläser, um den Mond groß zu
sehen.« Anders als damals üblich, trennte Leonardo die
Naturwissenschaft nicht von der Technik, sondern ver­
knüpfte beide. Vermutlich lässt ihn gerade die Verbin­
dung von Überlegungen und Umsetzung heute so visio­
när erscheinen.


Leonardo untersuchte ferner Phänomene, die über
das rein Physikalische hinausgehen und physiologische
Vorgänge betreffen. Dazu gehört eine Irradiation ge­
nannte optische Täuschung, die heute zudem bei Foto­
grafien in Form einer lokalen Überbelichtung (»Bloo­
ming«) auftritt. Er bemerkte beim Betrachten der Sonne
durch einen Baum, dass »alle Zweige, die vor der Sonnen­
scheibe liegen, so dünn sind« oder ganz überstrahlt
werden (siehe Foto oben). An anderer Stelle heißt es:
»Einst sah ich eine schwarz gekleidete Frau mit weißem
Kopftuch; dieses Tuch schien doppelt so breit wie ihre
Schultern zu sein, welche schwarz bekleidet waren.«
Ähnliches bemerkte er bei einem glühenden Eisenstab:
»Obwohl er überall gleich dick ist, erscheint er an der
glühenden Stelle viel dicker.«
Leonardo hat außerdem weit reichende Erkenntnisse
in der Hydrodynamik, Mechanik und Thermodynamik
notiert, deren Bedeutung meist erst viel später klar
wurde. Ebenso haben umfangreiche anatomische Studi­
en sein künstlerisches Schaffen maßgeblich beeinflusst.
Im Vergleich zu den übrigen Teilen seines Vermächtnisses
sind Leonardos Untersuchungen im Bereich optischer
Phänomene weniger bekannt. Doch als Grundlage seines
Schaffens waren sie unverzichtbar – und sie sind ein
eindrucksvolles Beispiel für die erstaunlichen Erkenntnis­
se, die ein wacher Geist den alltäglichsten Erscheinungen
abringen kann.

QUELLEN
Chastel, A. (Hg.): Leonardo da Vinci: Sämtliche Gemälde und
die Schriften zur Malerei. Schirmer­Mosel, 1990
Kemp, M.: Leonardo. C.H.Beck, 2004
Lücke, T. (Hg.): Leonardo da Vinci. Tagebücher und
Aufzeichnungen. Paul List, 1940

Helles Licht
überstrahlt
Schilfrohre und
lässt sie dün-
ner erscheinen.
H. JOACHIM SCHLICHTING
Free download pdf