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LESERBRIEFE
»BÜRGERWISSENSCHAFTLER«
LANGE IGNORIERT
Ökologe Josef Settele trug zusammen, was über den
Schwund an Insektenbeständen und dessen Ursachen
bekannt ist. (»Beunruhigender Sinkflug«, Spektrum Mai
2019, S. 12)
Tim Laußmann, Leverkusen: Als »Bürgerwissenschaftler«
mit naturwissenschaftlicher Ausbildung, der sich seit
30 Jahren intensiv mit der Beobachtung von Tag- und
Nachtfaltern im Raum Wuppertal befasst, kann ich mich
den Ausführungen nur anschließen. Wir blicken mit dem
Naturwissenschaftlichen Verein Wuppertal auf mehr als
150 Jahre gut dokumentierte Schmetterlingsbeobachtung
zurück. Aus diesen Daten geht eindeutig hervor, dass der
wesentliche Artenverlust, insbesondere bei hoch speziali-
sierten Arten, mit der Flurbereinigung in den 1950er Jahren
einherging. Damals mussten mit Hecken umsäumte klein-
teilige Parzellen zu Gunsten großer Agrarflächen weichen,
die leicht maschinell zu bewirtschaften sind. Das Problem
für die Falter: Nicht nur der Nektar war verschwunden,
sondern auch die Nahrungspflanzen der Raupen – Weide,
Schlehe, Weißdorn, Holunder und viele andere Gehölze
sowie diverse Kräuter in Saumbereichen. Nur mit Blühstrei-
fen an Ackerrändern wird es daher für Schmetterlinge nicht
getan sein. Ein Weiteres trägt die Versiegelung der Land-
schaft bei. Schmetterlinge überwintern je nach Art als Ei,
Raupe, Puppe oder Schmetterling. Alle diese Stadien brau-
chen ihre speziellen Verstecke – Nischen und Ritzen, Höh-
len, Steinhaufen, Reisig und so weiter, und dies im Verbund
mit den Lebensräumen der Falter und Raupen.
Dies alles wurde von uns ehrenamtlichen Insektenkund-
lern spätestens in den 1980er Jahren erkannt und zahlreich
publiziert, jedoch kaum beachtet. Über Jahrzehnte wurden
die »Bürgerwissenschafter« von der Politik – zumindest
gefühlt – als liebenswerte Querulanten mit Außenseiter-
hobby angesehen. Aus meiner Sicht ist nun ein gesell-
schaftlicher Konsens wichtig: Niemand will Landwirtschaft
wie im Mittelalter betreiben, aber kann man der Natur
angesichts unserer Überproduktion nicht etwas zurückge-
ben? Die Bauern sind ebenso wenig schuld an der Misere,
sie sind wirtschaftlichen Zwängen unterworfen, die falsche
Anreize setzen. Wenn wir Insekten als wertvoll erkennen,
dann kann man deren Förderung auch finanziell vergüten.
Joachim Lorenz, Karlstein am Main: Ohne Zweifel ist die
Wahrnehmung, dass es weniger sichtbare Insekten gibt als
früher, richtig – auch wenn die Lichtfalle wohl nur einen
kleinen Teil der Insekten erfasst, denn viele leben außerdem
unbeachtet im Boden. Die Gründe kann man aber ebenfalls
wahrnehmen. Die Vielfalt und die Masse der Insekten fußt
auf einer kleinräumigen Kulturlandschaft mit artenreichen
Pflanzen als Nahrung – nicht auf der Natur. Wenn man
diese als ungesteuertes Stück Land als Gegensatz zur
Kultur ansieht, dann gibt es in Deutschland seit Jahrhunder-
ten keine Natur mehr.
Wenn man ein Land sich selbst überlässt, wie im Bayeri-
schen Wald, dann ist das Ergebnis immer der Wald. Und
der ist gegenüber einer Kulturlandschaft artenarm. Es ist
doch auffällig, dass meistens ehemalige Kiesgruben, Stein-
brüche, alte Weinberge, Bergbaulandschaften, von Schafen
kahl gefressene Heiden, alte Hutewälder zur mittelalterli-
chen Tiermast und so weiter zu Naturschutzgebieten erko-
ren werden. Die Pflanzen und Tiere gibt es dort nur, weil der
Mensch Freiflächen geschaffen hat. Ein Erhalt dieser Sta-
dien in einer natürlichen Sukzession ist immer mit einem
dauerhaften Aufwand durch Menschen verbunden.
Udo Becker, Marburg: Wie konnte es passieren, dass die
Wissenschaft sich so lange nur mit dem Artenschwund
beschäftigt hat, das Problem der abnehmenden Individuen-
zahl aber nicht beachtet hat? Es ist meiner Beobachtung
nach ein Phänomen der Generationenfolge. Für junge
Menschen ist es selbstverständlich, dass man weit fahren
muss, um Orchideenstandorte zu finden oder nicht alltägli-
che Vögel zu beobachten. Man beschränkt sich auf Biotop-
schutz und bewahrt die wenigen Individuen selten gewor-
dener Arten. Anblicke von blühenden Wiesen, Massen von
Insekten, Fließgewässer, in denen große Fischschwärme
als dunkle Wolken erscheinen, fehlen. Die junge Generation
auch der Wissenschaftler geht von einer Normalität aus, die
Der erschre-
ckende Rück-
gang der Bio-
masse von
Fluginsekten,
den Forscher
über Jahrzehnte
beobachtet
haben, war
Thema unseres
Maihefts.