Spektrum der Wissenschaft - 09.2019

(Tuis.) #1
AUF EINEN BLICK
NEUES BETRIEBSSYSTEM
FÜR DIE ZELLE

1


Virale Attacken auf Zellen verursachen nicht nur
Krankheiten, sie kosten die Biotechnologie branche
auch Milliarden.

2


Ein amerikanisches Forschungsteam will das Bakte­
rium Escherichia coli für Viren unangreifbar machen,
indem es dessen genetischen Code umschreibt.

3


Falls die neu gestaltete Zelle wie geplant funktioniert,
könnte das der Erzeugung virusresistenter menschli­
cher Zellen den Weg bereiten.


Ein winziger Angreifer, etwa 1000­mal kleiner als seine
Beute, landet auf einem Bakterium der Art Escherichia
coli. Sechs dünne Beine geben einem Körper Halt, der
anmutet wie eine Spritze mit einem riesigen Kopf. Durch
eine Pore injiziert er seine DNA in die Zelle von E. coli, die
daraufhin beginnt, anhand dieses Bauplans viele weitere
Kopien des Aggressors anzufertigen. Bei ihm handelt es
sich um den Lambda­Phagen, und wie unzählige Viren vor
ihm kapert er gerade die zelluläre Maschinerie seines
Opfers, um sich zu vermehren. Weil er lediglich aus einer
Proteinkapsel mit Blaupausen zur Produktion weiterer
Kopien seiner selbst besteht, kann der Bakteriophage ohne
fremde Hilfe kein neues Material aufbauen. Die feindliche
Übernahme funktioniert, weil alle Organismen – von
Schnupfen auslösenden Rhinoviren bis zum Rhinozeros auf
den Ebenen Afrikas – dasselbe Codiersystem verwenden,
das auf Nukleinsäuren wie der DNA basiert. Einmal mit
dem Code gefüttert, baut eine Zelle anhand der enthaltenen
Anweisungen Proteine zusammen.
Im infizierten Bakterium bilden sich jetzt neue virale
Proteine. Innerhalb von Minuten wird die Zelle platzen und
eine Vielzahl brandneuer Lambda­Phagen freisetzen – von
denen jeder einzelne ein neues Bakterium befallen wird, so
dass sich der Vermehrungszyklus immer aufs Neue wieder­
holt. Doch plötzlich stoppt die zelluläre Maschinerie. Zum
ersten Mal im ewigen Zweikampf zwischen Virus und Zelle
kann die Zelle die Virus­DNA nicht mehr richtig lesen.
Damit ist das Ende des Bakteriophagen eingeläutet.
Denn der spezielle E.-coli­Stamm, den das Virus befallen
hat, wurde gentechnisch umprogrammiert. Er nutzt als
Betriebssystem nun eine DNA, die es noch nie zuvor gege­
ben hat und mit der der virale Code inkompatibel ist. Damit
bleibt der Phage machtlos, ähnlich wie ein Windows­Com­
putervirus in einem Mac. Das gleiche Schicksal wird den
anderen angreifenden Viren beschieden sein. So sieht die
Vision der Wissenschaftler aus, die zurzeit das Bakterium
mit dem neuen Code – sie nennen es rE.coli-57 – erschaffen.
Sie glauben, dass es wegen dieser Eigenschaft gegenüber
allen Viren immun sein wird, und haben große Pläne damit.
Eine Forschungsgruppe unter Leitung der jungen Biolo­
gin Nili Ostrov legt derzeit in einem Labor an der Harvard
Medical School letzte Hand an den Zusammenbau von
rE.coli-57. In den letzten fünf Jahren hat sich die Wissen­
schaftlerin intensiv mit jedem Detail der genetischen Nach­
gestaltung des Bakteriums beschäftigt und zermürbende
Stunden im Labor verbracht. Es ist das bisher aufwändigste
Gen­Editierungs­Projekt in der Geschichte: 2016 identifizier­
ten Ostrov und ihre Mitarbeiter 148 95 5 DNA­Abschnitte,
die geändert werden müssen, um die Zelle vor Viren zu
schützen; 63 Prozent davon hatten sie zu diesem Zeitpunkt
bereits modifiziert, ohne dass das Bakterium in seiner
Funktionsweise beeinträchtigt war.
Inzwischen, im Jahr 2019, ist die nachgebaute Zelle fast
fertig. Schon bald wird das eben vorgestellte Szenario nicht
nur mit einem, sondern mit Hunderten von Viren in einer
Petrischale ablaufen. Falls rE.coli-57 planmäßig überlebt,
könnte das die Beziehung zwischen Viren und ihren Op­
fern – einschließlich der Menschen – für immer verändern.

Auf jedem Quadratmeter unseres Planeten existieren rund
800 Millionen Viren. Sie infizieren uns zum einen mit mehr
oder weniger bedrohlichen Krankheiten; zum anderen brin­
gen sie ganze Industriezweige, die ihre Produkte mit Hilfe
von Zellkulturen herstellen, immer wieder in Bedrängnis. So
verlor der Biotech­Riese Genzyme (inzwischen zu Sanofi
gehörig), der Bakterien zur Wirkstoffproduktion einsetzt, die
Hälfte seines Börsenwerts, nachdem 2009 eine Virusinfekti­
on in seinem Werk in Allston, Massachusetts, die Produktion
lahmgelegt und damit einen kritischen Engpass in der welt­
weiten Versorgung mit dem Medikament Cerecyme hervor­
gerufen hatte. Auch in der Milchwirtschaft sind Viren eine
kostspielige Plage, denn hier braucht es Bakterien zum
Fermentieren von Käse und Jogurt. Sind diese kontaminiert,
müssen die Produkte entsorgt werden. Ein virusresistentes
Bakterium wäre ein Milliardengeschäft.

Minifabrik für Designer-Medikamente
Darüber hinaus könnte solch eine Zelle eine ganz neue Welt
für speziell designte Arzneimittel eröffnen. »Wenn wir raffi­
nierte Antikörper oder ausgefallene Arzneimittel auf Protein­
basis produzieren möchten, müssen wir der Zelle neue
chemische Bausteine zur Verfügung stellen«, sagt Ostrov.
»Das wäre ein ganz neues Konzept für die Pharmaindustrie.«
Zum Aufbau von Proteinen stehen der Natur von Haus aus
20 verschiedene Aminosäuren zur Verfügung. Das veränder­
te Betriebssystem von rE.coli-57 würde es erlauben, anhand
exotischer Aminosäuren neue Proteine aufzubauen, so wie
man mit neuen Legosteinen einen aus einer Starter packung
erstellten Bau erweitern kann. Mit Hilfe speziell konzipierter
Designer­Proteine ließen sich Krankheiten wie Aids oder
Krebs möglicherweise hochpräzise bekämpfen.
Beim Umschreiben des zellulären Codes (man spricht von
Recodierung) ändert man die Sprache, auf deren Grundlage
die Zelle ihre Proteine aufbaut – also jene Moleküle des
Lebens, die dafür sorgen, dass alles funktioniert. Sie bestehen
aus kleineren Einheiten, den Aminosäuren, von denen jede
durch einen Drei­Buchstaben­Code aus einer Kombination der
vier Nukleinbasen A(denin), C(ytosin), G(uanin) und T(hymin)
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