Der Spiegel - 31.08.2019

(lily) #1
Deutschland

32 DER SPIEGEL Nr. 36 / 31. 8. 2019


H


erbert Reul trat vor fast 50 Jahren
in die CDU ein, er war Stadtrat in
Leichlingen, Landtagsabgeordne-
ter in Düsseldorf, saß 13 Jahre lang im
Europäischen Parlament, bevor er Innen-
minister in Nordrhein-Westfalen wurde.
Doch auf die Frage, ob er sich als Politiker
vor dem Jahr 2019 jemals mit Kindesmiss-
brauch befasst habe, schüttelt er den Kopf.
»Ich glaube, ich war typisch für viele in
der Politik und in der Gesellschaft«, sagt
Reul, »wenn es früher mal um sexuelle Ge-
walt ging, sagten wir: Ja, das gibt es zwar,
aber das sind doch Ausnahmefälle. Das
Thema hatten wir nicht auf der Pfanne,
wir haben es verpennt.«
Reul, 67, sitzt in einem Ledersofa in ei-
nem Büro in Düsseldorf. Die vergangenen
Monate haben ihn geschlaucht. Im Januar
wurde bekannt, dass auf dem Camping-
platz in Lügde Kinder missbraucht wur-
den. Es geht um Hunderte Taten und Dut-
zende Opfer. Reul versprach Aufklärung,
doch viel ging schief, schließlich forderte
die Opposition seinen Rücktritt.
Reul blieb. Er sei ein anderer Politiker
geworden, sagt er, ein anderer Mensch,
seitdem er die täglichen Lageberichte zum
Fall Lügde erhalten habe und im Landes-
kriminalamt Fotos und Videos gesehen


habe, die bei Pädophilen sichergestellt
wurden. »Leider«, sagt Reul, »reagieren
wir in der Politik oft erst, wenn die Hütte
brennt.« Er erkenne einen Handlungsbe-
darf, den er vorher nicht gesehen habe.
Sexueller Missbrauch von Kindern sei
»zum Thema meiner Amtszeit« geworden.
Bis zur nächsten Wahl hat er noch zwei-
einhalb Jahre Zeit, um den Worten Taten
folgen zu lassen, damit es nicht immer wie-
der neue Verbrechen gibt. Erst einmal ist
die Justiz an der Reihe: Das Landgericht
Detmold will jetzt sein Urteil im Lügde-
Prozess sprechen. Für den Hauptbeschul-
digten fordert die Staatsanwaltschaft vier-
zehn Jahre Gefängnis, für seinen Kompli-
zen, zwölfeinhalb Jahre, plus anschließen-
de Sicherungsverwahrung für beide.
Schon nach den Skandalen in Kirchen
und an Internatsschulen in Deutschland, die
2010 bekannt wurden, gelobten Politiker
ziemlich aller Parteien, Missbrauch entschie-
dener zu bekämpfen. Es wurde auf Bundes-
ebene ein runder Tisch gegründet, Vertreter
aus den drei Ministerien Justiz, Familie und
Bildung trafen sich mit Experten, erarbei-
teten über eineinhalb Jahre einen Bericht,
in dem stand, was geändert werden sollte.
Ein Unabhängiger Beauftragter für Fragen
des sexuellen Kindesmissbrauchs wurde

berufen, eine Aufarbeitungskommission ge-
gründet, ein Hilfsfonds gestartet.
Doch dieser Beauftragte der Bundes -
regierung, Johannes-Wilhelm Rörig, hat
keine wirklichen Befugnisse und musste
immer wieder um die Verlängerung seines
Postens bangen. Die Aufarbeitungskom-
mission hat nur wenige Ressourcen. Und
der Hilfsfonds hat zu wenig Personal, Be-
troffene warten Jahre darauf, dass Mittel
bewilligt werden.
Noch schlechter ist die Lage in den Bun-
desländern und Kommunen, das Thema
ist bislang kaum auf der Agenda der Be-
hörden. In Nordrhein-Westfalen gibt es
rund 40 000 Polizisten, bislang existierten
nur 104 Stellen für Beamte, die sich mit
dem Thema Kindesmissbrauch beschäfti-
gen. Mitte des Jahres lagen in den Polizei-
behörden 557 Durchsuchungsbeschlüsse
im Zusammenhang mit Kinderpornogra-
fie, die noch nicht vollstreckt waren: keine
Zeit, kein Personal.
Schon 2002 hatte es Hinweise gegeben,
dass der Dauercamper Andreas V. in Lüg-
de ein achtjähriges Mädchen missbraucht
haben könnte. Doch bei der Polizei ver-
sandete die Sache. 2017 vertraute das Ju-
gendamt Andreas V. eine Pflegetochter an,
sie wurde von ihm vergewaltigt, genauso
wie viele ihrer Freundinnen. Nachdem
Andreas V. im Dezember verhaftet wor-
den war, passierten den Ermittlern zahl-
reiche Pannen. Polizisten übersahen Be-
weismittel und verschlampten einen Kof-
fer mit CDs und DVDs, der bei Andreas V.
sichergestellt worden war.
So etwas, hieß es, dürfe sich nie wieder-
holen. Seit April gibt es im Innenministe-
rium die Stabsstelle Kindesmissbrauch und
Kinderpornografie, die dafür zuständig ist,
die Polizeibehörden »umzustricken«, wie
Reul sagt. Aus den 104 Stellen seien 160
geworden. Die Zahl der ausstehenden
Durchsuchungen bei den Tatverdächtigen
sei von 557 auf 427 gesunken.
Reul sagt, er habe das Landeskriminal-
amt angewiesen, im Bereich Kindesmiss-
brauch mehr verdeckte Ermittler einzuset-
zen. Die sollen künftig in einschlägigen In-
ternetforen auch mit sogenannten Keusch-
heitsproben arbeiten dürfen. So wird neues
pornografisches Material bezeichnet, das
oft für den Eintritt in die Tauschringe hoch-
geladen werden muss. Ermittler dürfen das
Material bislang nicht verwenden, auch
wenn es computergeneriert ohne Miss-
brauch entstanden ist. Damit sich das än-
dert, wollen Bayern und Nordrhein-West-
falen eine Änderung des Strafgesetzbuchs
erreichen und dazu in den nächsten Tagen
einen Antrag in den Rechtsausschuss des
Bundesrats einbringen.
Im Landeskriminalamt in Düsseldorf
sollen Fotos und Videos, die sichergestellt
wurden, demnächst mithilfe von Compu-
terprogrammen vorsortiert werden. Von

Immer


wieder


VerbrechenDer Fall Lügde zeigt:
Politik und Behörden
haben den Kampf gegen Kindes-
missbrauch verschlafen.

GUIDO KIRCHNER / DPA
Campingplatz in Lügde: Hunderte Taten, Dutzende Opfer

OLIVER BERG / DPA
NRW-Innenminister Reul
»Die Hütte brennt«
Free download pdf