Der Spiegel - 31.08.2019

(lily) #1

D


ieser Sommer war für Queen
Elizabeth II. alles andere als ver-
gnüglich. Über Wochen kam ihr
weitverzweigtes Familienunter-
nehmen aus den Schlagzeilen nicht he-
raus. Erst musste die Monarchin lesen,
dass es der Duke und die Duchess of
Sussex, besser bekannt als Harry und
Meghan, mit ihrer Berufung als Öko-Ak-
tivisten offenbar doch nicht so genau neh-
men: In nur elf Tagen ließ sich das Paar
viermal in Privatjets quer durch Europa
fliegen. Danach machten sechsstellige Zu-
wendungen eines windigen Hongkonger
Geschäftsmannes an Mitglieder der kö-
niglichen Familie die Runde.
Am schwersten aber wogen Berichte,
wonach Prinz Andrew, Elizabeths zwei-
ter Sohn, nicht nur eine bedenklich enge
Freundschaft mit dem jüngst verstorbe-
nen Multimillionär und Se -
xualstraftäter Jeffrey Epstein
pflegte – sondern sich von die-
sem sogar minderjährige Mäd-
chen habe zuführen lassen. Ei -
ne Anschuldigung, die der Bu -
ckingham-Palast entschieden
zurückwies (siehe Seite 72).
Schon lange hat die 93-jäh-
rige Monarchin, die derzeit auf
ihrem schottischen Landsitz
Balmoral weilt, nicht mehr der-
art geballten Unmut über ih -
ren Clan zur Kenntnis nehmen
müssen. Aber obwohl der Som-
mer des Missver gnügens noch
nicht einmal vorüber ist, zeich-
net sich jetzt schon ein Horror-
herbst für die Queen ab.
Und diesmal steht die Köni-
gin selbst im Mittelpunkt einer
Auseinandersetzung, wie sie
das Vereinigte Königreich noch
nicht erlebt hat. Nach 67 Jah-
ren auf dem Thron, in denen
Elizabeth so pflichtbewusst wie erfolg-
reich ihre Überparteilichkeit zelebriert
hat, wird sie in diesen Tagen in eine poli-
tische Schlammschlacht gerissen. Schuld
daran ist der Brexit. Was sonst?
Boris Johnson, der von weniger als
100 000 konservativen Parteimitgliedern
und damit von etwas mehr als 0,1 Prozent
der britischen Bevölkerung gewählte Pre-
mierminister, hatte es angekündigt: Er wer-
de das Vereinigte Königreich am 31. Okto-
ber ohne Wenn und Aber aus der Europäi-
schen Union in die Freiheit führen, sagte
er Ende Juli. Und dafür werde er »alle not-
wendigen Mittel« ausschöpfen. Seit dieser
Woche ist klar, dass dazu auch zählt, not-
falls Dellen in den Thron von Elizabeth II.
zu schlagen – ein Akt des politischen Van-
dalismus, den sich so kein Premierminister
vor ihm getraut hat.
Am Mittwochmorgen kündigte John-
son, bleicher als sonst, an, die Queen um


Erlaubnis zu bitten, das britische Parla-
ment für fünf Wochen zu suspendieren.
Eine Bitte, der das weitgehend machtlose
Staatsoberhaupt denn auch nachkam.
Der Schritt sei nötig, so Johnson, um in
Ruhe eine politische Agenda für die Zeit
nach dem Brexit zu erarbeiten. Tatsächlich
wird traditionell jede neue Sitzungsperio -
de des Parlaments mit der pompös insze-
nierten »Queen’s Speech« eröffnet, dem
von der Monarchin vorgetragenen Regie-
rungsprogramm. Für gewöhnlich unter-
bricht das Unterhaus seine Arbeit deshalb
jedoch für wenige Tage – nicht für fünf
Wochen.
Mit seinem demokratisch fragwürdigen
Willkürakt verfolgt Johnson vor allem ein
Ziel: Die gewählten Abgeordneten des Un-
terhauses sollen ab sofort praktisch keine
Zeit mehr haben, seine Regierung am Voll-

zug des Brexit zu hindern, und sei es am
Ende ein vertragsloser Bruch mit der EU –
der sogenannte No Deal.
Binnen Minuten nach Johnsons Ankün-
digung schwappte am Mittwoch eine Wut-
welle durchs Land. Mehrere Personen des
öffentlichen Lebens, darunter Johnsons
Vorgänger John Major, kündigten eilige
rechtliche Interventionen an; eine Petition
mit dem Ziel, Johnson zu stoppen, wurde
innerhalb weniger Stunden von mehr als
einer Million Briten unterzeichnet.
In London und etlichen weiteren Städ-
ten begannen hektische Planungen für
Großdemonstrationen und alle möglichen
Formen zivilen Ungehorsams. Johnsons
eigene konservative Parteifreunde drohten
bereits mit einem Exilparlament, sollte
die Regierung tatsächlich die Pforten des
Westminsterpalasts verrammeln. Die Op-
position brachte sogar einen Generalstreik
ins Spiel.

Der Zorn der Massen richtete sich aber
nicht nur gegen den Berserker in Downing
Street. Auch unverhohlene Kritik an der
Queen, für viele Briten eines der letzten
Tabus, brach sich Bahn. »The. Queen. Did.
Not. Save. Us«, twitterte die Labourpoli-
tikerin Kate Osamor und brachte eine
Abschaffung der Monarchie ins Spiel. Ihr
Parteivorsitzender Jeremy Corbyn bat die
Monarchin schriftlich um ein Treffen, um
gegen Johnsons Coup zu demonstrieren.
Ähnliches begehrte Jo Swinson, die Chefin
der EU-freundlichen Liberaldemokraten.
Boris Johnson hat das Land, das sich in
einer dreijährigen Brexit-Debatte wund ge-
rieben hat, in eine endgültige Zerreißprobe
geführt. In einen beispiellosen Showdown
zwischen Exekutive, Legislative und Ju -
dikative, der ganz nebenbei noch die letz-
te intakte Säule des Vereinigten König-
reichs nachhaltig zu beschädi-
gen droht: seine Königin.
Es ist unmöglich vorherzu-
sagen, was die kommenden
Wochen bringen werden – au-
ßer Chaos.
Aber vieles spricht dafür,
dass Johnson genau das will,
um sein zentrales Versprechen
um jeden Preis zu halten: sein
Land am 31. Oktober aus der
EU zu führen, notfalls eben
ohne Abkommen. Mag er
nach dem G-7-Gipfel in Biar-
ritz den Kompromisswillen
der EU gelobt, mag er die
Chancen eines No Deal mit
»eins zu einer Million« bezif-
fert haben, mögen das Volk
und seine Vertreter mehrheit-
lich gegen einen vertragslosen
Bruch sein – niemand sollte
im wettverrückten Großbritan-
nien nun noch darauf setzen,
dass es am Ende wirklich eine
Einigung zwischen London und Brüssel
geben wird.
Die Opposition wurde von Johnsons
Volte kalt erwischt. Noch am Dienstag hat-
te Labourchef Jeremy Corbyn die Anfüh-
rer kleinerer Parteien um sich geschart, um
No-No-Deal-Pläne zu erörtern. Dabei ver-
warf die Gruppe zunächst das schärfste In-
strument, ein Misstrauensvotum gegen
Johnson – wohl vor allem deshalb, weil
sich die zerstrittene Opposition im Erfolgs-
fall kaum auf einen Kandidaten einigen
würde, der Johnson ersetzen könnte.
Stattdessen kündigten Corbyn & Co. an,
die Regierung in den verbleibenden Wo-
chen bis zum 31. Oktober per Gesetz an
einem vertragslosen Bruch hindern zu wol-
len. Kein leichtes Unterfangen: Die Tages-
ordnung für legislative Akte im Parlament
bestimmt die Regierung.
Um also über ein No-No-Deal-Gesetz
abstimmen zu können, müsste die Oppo-

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JULIEN MATTIA / LE PICTORIUM / STUDIO X
Premier Johnson
Akt des politischen Vandalismus
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