Der Spiegel - 31.08.2019

(lily) #1

sition Johnson beispielsweise für einen Sit-
zungstag die Hoheit über die Tagesord-
nung entwinden. Unter Theresa May war
das immerhin zweimal gelungen. Dass ein
solches Gesetz im Unterhaus jedoch durch-
ginge, wo die konservative Regierung noch
über eine Einstimmenmehrheit verfügt, ist
nicht garantiert.
Für Johnson, der in Biarritz leichthin
tönte, sein Land könne »spielend mit ei-
nem No Deal fertigwerden«, bedeutete
das konzertierte Vorgehen der Opposition
gleichwohl ein großes Risiko. Seine engs-
ten Berater glauben, nur ein von der
Queen unterschriebenes Gesetz könne ihn
noch daran hindern, den Brexit am 31. Ok-
tober zu vollziehen. Je weniger Zeit dafür
bleibt, desto größer Johnsons Chancen.
Keine 24 Stunden nach dem Opposi -
tionstreffen kündigte er daher seinen Gang
zur Königin an – im Wissen darum, dass
deren Handlungsspielraum in solchen Fäl-
len minimal ist. Nach Johnsons Willen soll
das Parlament nun von Dienstag an für
maximal sieben Tage »business as usual«
simulieren und danach erst wieder am 14.
Oktober zur »Queen’s Speech« zusam-
menkommen – zwei Wochen vor dem Bre-
xit-Termin. Dann hätten die Abgeordneten
immer noch »mehr als genug« Zeit, um
seinen bis dahin ausgehandelten Brexit-
Fahrplan zu debattieren.
Von einer »verfassungsrechtlichen
Schandtat« sprach Parlamentspräsident
John Bercow, auf dessen Widerstands- und
Erfindungsgeist nun die Hoffnungen vieler
EU-Freunde ruhen. Kommende Woche
soll es im Unterhaus eine »Notfalldebatte«


geben. An ihrem Ende sind normalerweise
zwar keine rechtlich bindenden Abstim-
mungen üblich, viele aber glauben, dass
Bercow sie diesmal zulassen wird, um ein
Eilgesetz gegen Johnson zu ermöglichen.
In Regierungskreisen dagegen heißt es,
man überlege in diesem Fall, die Queen
nicht um ihre zwingend notwendige Un-
terschrift zu bitten. Es wäre ein außerge-
wöhnlicher Affront gegen das Königshaus,
das Parlament aber wäre weitgehend
machtlos dagegen.

Als letztes Mittel bliebe den Abgeord-
neten dann nur noch ein Misstrauensvo-
tum. Bislang schreckte Oppositionschef
Corbyn davor zurück, weil er daran zwei-
felte, genügend Tory-Rebellen auf seine
Seite ziehen zu können. Seit Mittwoch
aber hat sich die Lage geändert. Konser-
vative Abgeordnete wie der ehemalige Ge-
neralstaatsanwalt Dominic Grieve ließen
kühl wissen, nun sei sehr bald der Zeit-
punkt gekommen, an dem sie gemeinsam
mit der Opposition die Regierung stürzen
würden.
Nur: Genau das könnte es sein, worauf
Johnson es anlegt. Der 55-Jährige hat sich
schon vor Wochen rechtlich beraten lassen,
mit durchaus verblüffendem Ergebnis.

Nach geltender Gesetzeslage kann nach
einem erfolgreichen Misstrauensvotum
zwar jeder Abgeordnete innerhalb von
14 Tagen versuchen, eine Regierungsmehr-
heit zusammenzuschustern, um sich her-
nach offiziell von der Queen zum neuen
Regierungschef ernennen zu lassen. Er-
staunlicherweise verbietet es das Gesetz
dem eigentlich abgewählten Premier aber
nicht, den Rücktritt zu verweigern. Alles
sieht danach aus, als habe Johnsons Team
das genau so geplant – es ist ein beispiel-
loses Pokerspiel. Der Einsatz sind 66 Mil-
lionen Menschen.
Es scheint, als setze Johnson ganz un-
geniert darauf, dass die Opposition auf die
Schnelle keinen Interimskandidaten für
das Amt des Premierministers finden wird.
Und falls doch, dass die Queen seinem Rat
folgen und den Gegenkandidaten nicht for-
mell ernennen wird. Johnson bliebe damit
bis zu Neuwahlen im Amt. Die könnte er
selbst auf einen Termin im November le-
gen. Der Brexit wäre dann vollzogen –
und Johnson könnte sich mit diesem Erfolg
ein neues Mandat vom Wähler holen.
Es gibt fast nichts und niemanden, das
oder der ihn an diesem Vorgehen hindern
könnte. Außer eben Ihrer Königlichen
Majestät, Queen Elizabeth II. Sie würde
gezwungen, eine der folgenschwersten
politischen Entscheidungen für ihr Land
seit dem Zweiten Weltkrieg zu treffen.
Und was immer sie tut: Ein Teil ihres Vol-
kes wird sie dafür hassen.
»Johnson missbraucht unsere Königin«,
wetterte seine ehemalige Tory-Kollegin
Anna Soubry. Und kündigte an, sie und
ihre Parlamentskollegen würden jede Mög-
lichkeit ausschöpfen, um den Spieler in
10 Downing Street doch noch auszumanö-
vrieren.
Dass der Wahnsinn selbst dann noch
nicht vorbei sein wird, wenn Johnson die-
sen waghalsigen Plan tatsächlich umsetzen
sollte, machte jüngst der Verfassungsex-
perte Vernon Bogdanor in der »Times«
deutlich. Johnsons Vorgehen wäre zwar
legal, befand der. Genauso legal wäre es
allerdings für ein im November neu ge-
wähltes Parlament, den Austrittstermin


  1. Oktober rückwirkend für nichtig zu
    erklären – vorausgesetzt natürlich, die EU
    machte dabei mit.
    Der Tumult wird sich so schnell also
    nicht legen. Und ganz oben im Norden des
    Königreichs sitzt derzeit eine alte Dame
    in einem Schloss, die das alles schon lange
    geahnt hat. Darauf lässt ein jüngst durch-
    gesickertes Zitat von Queen Elizabeth
    schließen, das kurz nach dem Brexit-Re-
    ferendum gefallen sein soll. Die derzeitige
    Politikergeneration, klagte sie damals,
    zeichne sich durch ihre »Unfähigkeit zu
    regieren« aus. Jörg Schindler
    Mail: [email protected]


70 DER SPIEGEL Nr. 36 / 31. 8. 2019


Ausland

JUSTIN TALLIS / REUTERS
Sitzungssaal des Unterhauses: Weitgehend machtlos

Es scheint, als setze
Johnson darauf, dass
die Opposition keinen
Kandidaten findet.
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