Der Spiegel - 31.08.2019

(lily) #1

ka-Instituts grübelt Ehrsson bis heute
darüber nach, woher die Sicherheit rührt,
dass er damals irrte.
Er studiert diese Frage, indem er mittels
raffinierter Experimente das menschliche
Empfinden von »selbst« und »fremd« ver-
wirrt. Als Lohn für diese faszinierenden
Versuche hat ihn das Fachblatt »Nature«
als »Meister der Illusion« porträtiert.
»Die Einheit des Ichs scheint uns ganz
selbstverständlich«, sagt Ehrsson. Wie er-
staunlich dieses Konzept eigentlich ist,
werde erst offenbar, wenn es in sich zu-
sammenbricht.
Dazu kann es zum Beispiel nach Verlet-
zungen oder Schlaganfällen kommen. Sol-
che Patienten empfinden dann einzelne
ihrer Gliedmaßen als Fremdkörper, die
nicht Teil dessen sind, was sie als ihr
»Selbst« erleben. Sie beteuern, dass die
Hand am Ende ihres Arms nicht ihnen
gehöre, oder sie versuchen nachts, das ver-
meintlich fremde Bein aus ihrem Bett zu
schmeißen.
Auch der umgekehrte Fall kommt vor:
Nach Amputationen leben abgetrennte
Arme oder Beine oft noch jahrelang als
Phantome im Bewusstsein von Patienten
fort. Höchst lebhaft verspüren die Betrof-
fenen dann Schmerz in Gliedmaßen, die
sie längst verloren haben.
Solcherart Sinnesverwirrung versucht
Ehrsson bei seinen Probanden durch ex-
perimentelle Tricks künstlich auszulösen.
Wenn er zum Beispiel mit einem Pinsel
eine Gummihand bestreicht, die gut sicht-
bar vor seinen Probanden auf dem Tisch
liegt, während er gleichzeitig ihre echte,
unter der Tischplatte versteckte Hand strei-
chelt, dann reagieren die meisten nach
rund 20 Sekunden mit ungläubigem Er-
staunen: Plötzlich meinen sie die Gummi-
hand auf dem Tisch vor sich als die ihre
zu spüren.
Es ist ein Trug mit höchst realer Wirkung:
Wenn der Forscher danach mit einem
spitzen Messer in die Gummihand auf der
Tischplatte sticht, dann schießt in der ver-
deckten echten Hand unvermittelt die
Schweißproduktion hoch: ein Ausdruck
der physiologischen Angstreaktion, weil die
Probanden fürchten, verletzt zu werden.
Ehrsson schafft es, seinen Testpersonen
sogar noch weitaus erstaunlichere Kör per -
erfahrungen vorzugaukeln. So vermittelt
er ihnen mit ein paar subtilen Manipula-
tionen das Gefühl, drei Arme zu haben;
oder er lässt sie in ihrem Erleben auf Zwer-
gengröße schrumpfen. Er kann sie sogar
dazu bewegen, ihren Körper ganz zu ver-
lassen. Er spielt ihnen dazu in eine Video-
brille Kamerabilder ein, auf denen sie sich
selbst von außen sehen (siehe Grafik).
Die vielleicht erstaunlichste Illusion
aber erschafft Ehrsson, wenn er in die Bril-
le seiner Probanden das Bild einer Kamera
projiziert, die er selbst auf dem Kopf trägt.


Sobald er seinen Testpersonen dann die
Hand gibt, glauben sie zu spüren, wie sie
sich selbst die Hand schütteln.
Im Kernspintomografen verfolgt Ehrs-
son, was sich während solcher Trug -
experimente im Gehirn abspielt. Anhand
der Tomogramme kann er nachvoll -
ziehen, wie die Signale der verschie -
denen Sinneskanäle im Schläfen- und
Scheitellappen des Großhirns zusammen-
laufen.
Dort werden sie miteinander in Verbin-
dung gesetzt: Spezielle Neurone in den so-
genannten Assoziationsfeldern der Groß-
hirnrinde prüfen, ob die jeweiligen Reize,
die Augen, Tast- und Körpersinn melden,
zusammenpassen. »Entscheidend ist die
Gleichzeitigkeit«, erklärt Ehrsson. »Wenn

das, was wir fühlen, gegenüber dem, was
wir sehen, auch nur um 300 Millisekunden
verzögert ist, bricht die Illusion zusam-
men.«
Das Gehirn, sagt der Stockholmer Hirn-
forscher, sei ein äußerst empfindlicher
Gleichzeitigkeitsdetektor. Ohne Unterlass
werden Reize aus allen Sinnesarealen
miteinander abgeglichen und synchron
feuernde Signale als zusammengehörig
bewertet. Daraus setzt das Gehirn dann
ein fortwährend aktualisiertes Körperbild
zusammen. Binnen wenigen Sekunden
kann es sich einem veränderten Reiz -
muster anpassen.
All das ist für Ehrsson weit mehr als blo-
ßes Illusionstheater. Er hofft darauf, mit-
hilfe seiner Forschungen später Prothesen
entwickeln zu können, die von ihren Trä-
gern als körpereigene Gliedmaßen akzep-
tiert werden.
Im Prinzip funktioniert es, das konnte
er in klinischen Experimenten bereits
nachweisen: Wenn er eine künstliche
Hand im Blickfeld der Patienten berührte
und gleichzeitig die entsprechenden Area-
le im Scheitellappen ihres Großhirns elek-
trisch reizte, dann stellte sich bei ihnen
spontan das Gefühl ein, die Hand wäre
ihre eigene.
Sein Duisburger Kollege Krekhov er-
kundet unterdessen, ob sich die im Labor
hervorgerufenen Körperillusionen zur Ver-
feinerung virtueller Erlebniswelten nutzen
lassen.
Das Interesse der Spieleindustrie ist
groß. Schließlich bestehen Computerspiele
ihrem Wesen gemäß darin, Illusionen zu
erzeugen. Und wenn es gelänge, den Spie-
lern das Gefühl zu vermitteln, auch kör-
perlich Teil der Handlung zu sein, dann
könnte dies die Intensität des Spielerleb-
nisses enorm steigern.
Noch allerdings sind die Tierillusionen
der Duisburger zu rudimentär, um wirk-
lich überzeugend zu sein. Die Bewegungen
ihrer Probanden erfassen die Forscher nur
sehr grob mithilfe von ein paar Sensoren,
die sie an Armen und Beinen befestigen.
»Ideal wären ganze Datenanzüge«, sagt
Krekhov. »Aber dafür haben wir nicht das
Budget.«
Hinzu kommt ein weiteres Problem:
Wenn die Signale der verschiedenen
Sinneskanäle, über die das Gehirn Infor-
mationen über den Körper erhält, nicht
exakt zusammenstimmen, dann weckt
die virtuelle Welt im Organismus eine
sehr reale Abwehrreaktion: Übelkeit.
Johann Grolle

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Video
Fliegen in VR

spiegel.de/sp362019koerper
oder in der App DER SPIEGEL

Die Testperson
nimmt ihre Umgebung
über eine Videobrille wahr, die
Bilder der hinter ihr installierten Stereokamera
empfängt: Der Proband schaut also auf seinen eigenen
Rücken.

Eine zweite Person
führt synchron eine Doppel-
bewegung aus: Eine Hand versetzt der Versuchsperson
mit einem Stäbchen einen leichten Stoß an die Brust,
die andere Hand vollführt zum Schein den gleichen
Schlag vor der Kamera.

Die Test-
person sieht diesen
vermeintlichen Schlag
kommen und spürt im
nächsten Moment die Berührung
an der Brust: Beide Sinneseindrücke zusammen
suggerieren dem Hirn, man befände sich gleichsam
hinter sich selbst in einem imaginären Körper.

Völlig losgelöst
Out-of-body-Illusionsexperiment nach Henrik Ehrsson
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