Der Spiegel - 31.08.2019

(lily) #1

90 DER SPIEGEL Nr. 36 / 31. 8. 2019


Wissenschaft

D


ie tollsten Spielplätze haben natür-
lich immer die anderen: Eine von
innen erkletterbare Riesenskulptur,
auf deren Gipfel zwei ausrangierte Flug-
zeuge thronen, steht in St. Louis im US-
Bundesstaat Missouri.
In der peruanischen Hauptstadt Lima
verwandelte ein Architektenkollektiv aus-
rangierte Bahngleise in den »Ghost Train
Park« – ein furioser Kletter- und Schau-
kelparcours für Kinder.


Der vielleicht verrückteste Tobeplatz
aber (»The Land«) befindet sich unweit
der walisischen Universitätsstadt Wrex-
ham. Auf dem Areal sieht es aus wie auf
einer Müllkippe. Altes Spielzeug, Sand -
säcke und Paletten liegen ungeordnet
herum. Ein Traum: Kinder können hier
machen, was sie wollen – sogar ein Feuer-
chen, wenn’s beliebt.
Dies sind Orte nach dem Geschmack
von Günter Beltzig. Seit Jahrzehnten ge-
staltet der Industriedesigner Spielplätze;
diverse Geräte hat er selbst erfunden. Nicht
nur in Deutschland, auch in den Vereinig-
ten Staaten, in Russland und Süd korea ver-


lassen sich Auftraggeber auf sein Fach -
wissen. Sein Motto lautet: »Der scheinbar
sichere Spielplatz ist der gefährliche – und
umgekehrt.« Damit meint Beltzig, dass
Kinder auf Spielplätzen unbedingt ihre
Sinne für Gefahren schärfen sollten.
In Deutschland wird die Sicherheit
durch eine DIN-Norm geregelt. In DIN
EN 1176 heißt es, dass Kinder lernen müs-
sen, »Risiken zu bewältigen, und das kann
auch zu Prellungen, Quetschungen und
gelegentlich sogar zu gebrochenen Glied -
maßen führen«. Günter Beltzig hat an
dieser Norm mitgearbeitet. Doch wie sehr
werden Kinder auf den Spielplätzen hier-
zulande wirklich gefordert?
Fraglos gibt es Anlagen, die heraus ragen.
Das Gros besticht jedoch leider selten
durch Einfallsreichtum. Allzu oft müssen
Kinder mit dem immer gleichen Angebot
aus Wippe, Schaukel und Rutsche vorlieb-
nehmen. Beltzig sieht das Konzept Spiel-
platz daher »in der Sackgasse«.
Die prägende Erfahrung des 78-Jähri-
gen war seine eigene Kindheit im Nach-
kriegsdeutschland. »Als Kinder spielten

wir überall, in Trümmern oder auch in
kaputten Autos«, sagt er. Nur habe es
damals intakte Kindergemeinschaften ge-
geben, bei denen sich die Eltern darauf
verlassen konnten: »Wenn sich eines der
Kinder als Tyrann aufspielte oder die
Gruppe von einem Sittenstrolch belästigt
wurde, hat irgendwer sofort den großen
Bruder oder einen der Erwachsenen zu
Hilfe geholt.«
In der heutigen Gesellschaft, die zuneh-
mend von Helikoptereltern und Einzel -
kindern geprägt wird, sei das viel schwie-
riger. Viele Eltern trauten sich nicht mehr,
ihren Nachwuchs unbeobachtet spielen zu

lassen. Genau das hält der Gestalter aber
für besonders wichtig.
Aus diesem Grund vertritt Beltzig einen
pragmatischen Ansatz. Auch angesichts
zunehmend knapper werdender Flächen
in den Städten könnte der Spielplatz der
Zukunft womöglich sogar in geschlossenen
Gebäuden liegen. Hauptsache, die Kinder
können dort auch mal ohne die Eltern im
Nacken herumtoben.
Für Beltzig kann das aber nur eine Kom-
promisslösung sein; denn für den besten
Spielplatz hält er die Wildnis. Zu seinen
Lieblingsprojekten gehören Spielland-
schaften, die fast gänzlich ohne die klas -
sischen Spielgeräte auskommen und die
Natur nachbilden.
An Steinformationen, Sandmulden und
Kletterbäumen soll der Nachwuchs auch
die eigenen Grenzen kennenlernen.
Am liebsten mag der Querdenker jene
bespielbaren Orte, an denen Kinder etwas
verändern und ihre Kräfte messen können.
Besonders gut kommen bei den Kleinen
deshalb jene Gelände an, auf denen sie an
Pumpen und Hebeln zerren können, um
damit etwa einen Wasserfall oder eine
Schlammlawine in Gang zu setzen.
In Trier hat Beltzig eine Wasserspiel-
landschaft mit großen Matschpfützen
gestaltet, in denen die Kinder mit Bagger -
schaufeln freudig herumwühlen. Die mo-
dernen Holzkonstruktionen, die sich der-
zeit auf vielen Spielplätzen finden, emp-
findet Beltzig hingegen »als bloße Deko-
ration«, die vor allem irgendwelchen Pla-
nern Spaß machten. Der Spielplatz sei all-
zu häufig ein Ort, »der von Erwachsenen
gestaltet wird, damit Kinder sich genauso
frei entfalten können, wie die Erwachse-
nen sich das vorstellen«.
Mit dieser Bestandsaufnahme liegt er
so falsch nicht. Wie sehr mitunter die Pla-
nungen der Erwachsenen mit den Interes-
sen der Kinder kollidieren, zeigte sich
kürzlich in Frankfurt am Main. Auf dem
Spielplatz im Holzhausenpark im Stadtteil
Nordend hatten einige Kinder in ihrem
anarchischen Spieltrieb die angebotenen
Geräte links liegen lassen und stattdessen
den Baumbestand der Anlage zum Buden-
bau und Herumtollen genutzt.
Durch stetes Trampeln hatten die spie-
lenden Kinder den Boden derart verdich-
tet, dass die Baumwurzeln nicht mehr
genug Sauerstoff bekamen. Also mussten
die gefährdeten Bäume vom Spielbetrieb
abgeriegelt werden.
Eine unschöne Situation, die das Frank-
furter Kinderbüro allerdings mit einem
Kompromiss rettete: Zwar dürfen die Bäu-
me weiterhin nicht mehr zum Spielen
genutzt werden. Jedoch wurde ausgewähl-
ten Kindern erlaubt, drum herum einen
Holzzaun zu bauen und anzustreichen.
Frank Thadeusz

Sinn für


Gefahr


PädagogikDesigner entwickeln
neue kreative Konzepte
für Spielplätze. Dort sollen die
Kinder unbeobachtet von
den Eltern herumtoben können.

ALL MAURITIUS IMAGES CONTENT+ / MAURITIUS IMAGES / TOM UHLMAN / ALAMY
Klettergerüst in St. Louis: »Prellungen, Quetschungen und sogar gebrochene Gliedmaßen«
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