Neue Zürcher Zeitung - 21.08.2019

(John Hannent) #1

Mittwoch, 21. August 2019 ∙Nr. 192∙240.Jg. AZ 8021Zürich∙Fr. 4.90 ∙€4.


Strafen ohne Gericht: Die Schnellverfahren gewinnen an Bedeutung – oft zulasten der Wahrheit Seite 12


Italiens Regierung

ist am Ende

Minister präsident Giuseppe Conte tritt zurück


Italiens populistisches
Experiment ist gescheitert.
Die Cinque Stellekönnten
sich nun mit der Linken
auf eineKoalition einigen.
Sonst gibt es Neuwahlen.

ANDREA SPALINGER,ROM

Italiens Ministerpräsident, Giuseppe
Conte, hat in einer Stellungnahme vor
dem Senat am Dienstagnachmittag die
Bilanz seinerRegierung verteidigt. Er
kritisierte die Lega dabei scharf dafür,
dass sie derKoalition mit seinen Cinque
Stelle die Unterstützung entzogen hatte.
Man habe im letztenJahr viele wich-
tig e Gesetze verabschiedet und hätte
gemeinsam noch mehr erreichenkön-
nen, lautete die beschönigende Bilanz
Contes. Dem Lega-Chef, Matteo Sal-
vini, warf Contevor, Italien aus wahl-
tak tischen Interessen in eine schwere
politische Krise gestürzt zu haben.
Nach der Debatte im Senat fuhr der
Regierungschef am Abend zum Prä-
sidentenpalast hoch und überreichte
Sergio Mattarella seinRücktrittsschrei-
ben. Die erste populistischeRegierung
Italiens gehört damit derVergangen-
heit an.

Harter Schlagabtausch


In seinerReplik im Senat warf Salvini
den Cinque Stelle vor, die Regierung in
allenFragen blockiert zu haben, und for-
derte einmal mehr sofortige Neuwahlen.
Im Gegensatz zu anderen habe erkeine
Angst vor dem Urteil derWähler, feixte
Salvini.Wenn er an die Machtkomme,
werde er nur auf denWillen desVolkes
hören und sich weder von EU-Büro-
kraten nochvon der deutschen Bun-
deskanzlerin oder dem französischen
Präsidenten etwas vorschreiben lassen.
Er werde ein «mutiges» Budget verab-
schieden und Italien wieder zuWachs-
tum verhelfen.
Der Kontrast zwischen demVollblut-
politiker Salvini und demRechtsprofes-
sor Conte hätte nicht auffallender sein
können .Während der 46-jährige Mailän-
der mit markigen SprüchenWahlkampf
machte, gab sich der 55-jährige Apu-
lier beiseinemAuftri tt staatsmännisch.
Der Ministerpräsident, der imJuni 20 18
zufällig alsKompromisskandidat auf-
tauchte und lange nicht viel mehr als ein
machtloserVermittler zwischen seinen
zerstrittenen Stellvertretern, Lega-Chef
Matteo Salvini und Cinque-Stelle-Chef
Luigi Di Maio,zusein schien,hat in den
letzten Monaten an politischer Statur
wie auch anPopularität gewonnen.
Vor dem Senat meinte Conte war-
nend,dass sich Italienkeine wirtschaft-
lichen Abenteuer und keinen Kon-
frontationskurs mit der EU leisten
könne. Seinem Innenminister las er wie
einem ungehorsamen Schüler die Levi-
ten. Wenn manRegierungsverantwor-
tung übernehme, müsse man das natio-
nal e Interesse vor alles andere stellen,
mahnte er. Salvini habekeinen Respekt
vor der demokratischenKultur und den
Institutionen gezeigt.Wahlen seien zwar

unbestritten die Essenz der Demokra-
tie. Zu verlangen, dass jedesJahr abge-
stimmt werde,nur weil sich die Stim-
mung imLand ändere, sei jedochver-
antwortungslos.
Nach ContesRücktritt übernimmt
der Staatspräsident dieRegie. Sergio
Mattarella wird schonan diesem Mitt-
woch eine ersteRunde vonKonsulta-
tionen mit den imParlament vertrete-
nen Parteien beginnen, um herauszu-
finden, ob es eine alternative Mehrheit
gibt. Der ehemaligeVerfassungsrichter
ist nicht begeistertvon derAussicht auf
Neuwahlen, weil erst im letztenJahr ge-
wähltworden war. Zudem ist dasTiming

wegen der bevorstehendenVerabschie-
dung des Haushalts höchst unglücklich,
und ein längeres Machtvakuumkönnte
für ItaliensWirtschaft verheerend sein.
Wenn sich eine einigermassen stabile
neue Mehrheit abzeichnen sollte, dürfte
Mattarella den betroffenen Parteien
deshalb Zeit zumVerhandeln einräu-
men.Wenn nicht, könnte er auf die Bil-
dung einerbreitabgestütztenoder neu-
tralen Übergangsregierung drängen,um
bis zu denWahlen eine gewisse Stabili-
tät zu gewährleisten.

SchwierigeVerhandlungen


Da auchviele Parlamentarierkeine
Lust auf Neuwahlen haben, ist Bewe-
gung in die politischeLandschaft ge-
kommen. Sowohl bei Cinque Stelle
wie auch bei demPartito Democra-
tico scheint man auch über die Bildung
einerKoalition nachzudenken, um Ita-
lien vor dem «autoritären Salvini» und
einem «Sturz ins wirtschaftlicheVerder-
ben» zurett en.
Die Cinque Stelle und derPartito
Democratico verfügen imParlament
derzeit über eine Mehrheit. Zwischen
den beidenParteien gibt es jedoch grosse
ideologische Differenzen wie auch per-
sönliche Animositäten.Falls Koalitions-
verhandlungen überhaupt je beginnen,
dürften sie zäh werden.Angefangen bei
der Personalfrage. Der Partito Demo-
cratico dürfte einen Führungswech-
sel bei den Cinque Stelle fordern, will
er doch kaum mit den gleichen Leuten
regieren,die zuvor mit denRechtspopu-
lis ten im Boot gesessen haben.
Der in die Defensive geratene Salvini
hat mit einer Mobilisierung der Massen
auf den Plätzen gedroht, sollten Neu-
wahlen durch ein«Techtelmechtel der
Sesselkleber» verhindert werden.In sei-
ner Rede vor dem Senat behauptete der
Lega-Chef, seine Gegner hätten bereits
seit längerem gegen ihnkonspiriert. So-
wohl vor dem Senat als auch in derAula
schrien Gegner und Anhänger Salvinis
am Dienstag um dieWette, und die Ge-
müter dürftensich in den kommenden
Tagen noch weiter erhitzen.

ALEXANDRA WEY / KEYSTONE

Der grösste Hosenlupf


der Geschichte


Am Freitag beginnt in Zug das nur alle dreiJahre stattfindende Eidgenössische
Schwing- und Älplerfest. Es wirdein Anlass der Superlative:DasOrganisations-
komiteerechnet mit bis zu 350000 Besucherinnen und Besuchern, und dasFest-
budgetbeträgt rund 37 MillionenFranken. Im Kampf um denKönigstitelkönnten
die schwächelndenBerner einen entscheidendenVorteil haben. Sport,Seite 42, 43

Die EU lässt Boris Johnson abblitzen


Brüssel will die Lösung für die inneriris che Grenze nich t aus dem Br exit- Abkommen streich en


NIKLAUS NUSPLIGER, BRÜSSEL


Mit seinem Ansinnen, den ungeliebten
Backstop aus dem Brexit-Abkommen
zu entfernen, hat der britische Premier-
minister BorisJohnson in Brüssel kühle
Reaktionen ausgelöst. EU-Rats-Präsi-
dent DonaldTusk, an den ein entspre-
chendes SchreibenJohnsons Montag-
abend adressiert war, schrieb am Diens-
tag aufTwitter , der Backstop sei eine
Rückversicherung zur Verhinderung
einer harten Grenze in Irland für den
Fall, dasskeine andere Lösung gefun-
den werde: «Jene, die gegen denBack-
stop sind,ohne realistischeAlternativen
vorzuschlagen, befürworten faktisch die
Wiedererrichtung einer Grenze–auch
wenn sie es nicht zugeben.»


Auftakt zum Nervenkrieg


Gut zwei Monate vor dem planmässi-
gen EU-Austritt Grossbritanniens per
Ende Oktober ist daherkeine substan-
zielleBewegungin dieverhärtetenFron-
ten gekommen.Johnson hatte in sei-
nem Brief angeregt, denBackstop für
die innerirische Grenze aus demAus-
trittsabkommen zu entfernen.Für den
Fall, dass alternative Arrangements bis
zum Ende der Übergangszeitnicht be-
reitstehenwürden,schwebtJohnsoneine
Auffanglösung vor, zu der der Brief aber
keine konkreten Details preisgibt. Den-
nochmarkiertedasSchreibennachJohn-
sons Wahl zumRegierungschef ein ers-
tesoffiziellesSignalanBrüsselsowieden
AuftaktfürdieimVerlaufderWochege-
plantenTreffen mit der deutschen Kanz-
lerin Angela Merkel und dem französi-
schen Präsidenten Emmanuel Macron.


Als Folge des Brexits entsteht zwi-
schen Irland und Nordirland eine 500
Kilometer lange EU-Aussengrenze, an
derWarenkontrollennötigwerden,wenn
die EU und Grossbritannien nicht mehr
imgleichenZollgebietundnichtmehrim
gleichen Binnenmarkt mit einheitlichen
Regelnsind.DerBackstopsiehtvor,dass
Grossbritannien im Notfall weiterhin
über eine Zollunion mit der EU verbun-
den wäre und dass Nordirland auch in
ZukunftinTeilendesBinnenmarktsver-
bliebe. Die Briten aber befürchten, die
EUwolleGrossbritannienaufalleEwig-
keit in diese Zollunion zwängen, was sie
daranhindernwürde,eineeigenständige
Aussenhandelspolitik zu verfolgen.
Ins gleiche Horn wieTusk stiess auch
eine Sprecherin der EU-Kommission.
Johnsons Brief enthaltekeine rechtlich
tragbare und operationell funktionie-
rendeLösungzurVermeidungeinerhar-
ten Grenze zwischen Irland und Nord-
irland, betonte sie.Die EU-Kommis-
sionbegrüsseaber,dasssichdiebritische
Regierung weiterhin an einem geordne-
ten Brexit interessiert zeige. Man sei be-
reit,mit LondonVorschläge zu diskutie-
ren, solangediese nicht imWiderspruch
zum Austrittsvertrag stünden.

«VageLuftschlösser»


Ähnlich äusserten sich Diplomaten hin-
ter denKulissen. Ein Gesprächspart-
ner begrüsste, dass nach monatelanger
Funkstille wieder einVorstoss vorliege,
der es erlaubenkönnte, dass man ins
Gesprächkomme.Allerdings seien die
von Johnson vorgebrachten Alternati-
ven bis jetzt bloss «vage Luftschlösser».
Ein anderer Diplomat betonte gar, nach

der Lektüre des Briefs sei zweifelhaft,
ob Grossbritannien ein echtes Interesse
an Verhandlungen habe.
Denn seit Beginn derVerhandlungen
steht fest,dass Irlandund die anderen
verbleibendenEU-St aatenaufeinekon-
kreteAuffanglösung für die innerirische
Grenze pochen.In Zusatzerklärungen
hatten die EU-27 bereits zugesichert,
dass sich die EU bemühen werde,Alter-
nativenzum Backstop zu finden, damit
dieser möglichst gar nie oder höchstens
befristet zur Anwendung käme.

KommunikativesPowerplay


Dipl omatengehen davon aus, dass sich
wenig bewegen wird, bis sich die innen-
politischeLage in Grossbritannien An-
fang September etwas klärenkönnte.
Dann wird das Unterhaus seine Arbeit
aufnehmen, wobei die Opposition ver-
sucht, Johnson zuFall zu bringen. Seine
Regierung bekräftigteamDienstagden
Willen, per Ende Oktober aus der EU
auszuscheiden, und wies ihre Diploma-
ten an, ab September den meisten EU-
Sitzungen in Brüssel fernzubleiben.
DiesemkommunikativenPowerplay
versucht Brüssel mit einer Mischung aus
HärteinderSubstanzundgrundsätzlicher
Gesprächsbereitschaft entgegenzutreten.
Für einenKurswechsel gibt eskeine An-
haltspunkte. Allerdings würde ein unge-
ordneter Brexit zu jener harten inner-
irischen Grenzeführen, die man mit dem
Backstop verhindern will.Eine Schlüssel-
position nimmt daher die irischeRegie-
rung ein, die am Dienstag darauf hinwies,
dassLondonkeinegangbareAlternativen
zum Backstop vorgeschlagen habe.
International, Seite 3

Regierungskrise
Kommentar:Salvini stelltdemokratische
Verfahren infrage. Seite 11

Kapitalmarkt:Italienische Aktien und
Staatsanleihen erleidenVerluste.Seite 29

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