Mittwoch, 21. August 2019 ZÜRICH UNDREGION 19
Ein Startup zerstört sich selbst
DieMethode «Kill Your Business» sol l jungen Unternehmen helfen, ihre Schwächen zu erkennen
DANIEL FRITZSCHE
WennJungunternehmer ihreGeschäfts-
ideen anpreisen, dann greifen sie gerne
zu Superlativen: Unser Produkt ist das,
worauf dieWelt gewartet hat! Unsere
Umsätze schnellen im Nu in atemberau-
bende Höhen!Bald schon dominieren
wir denWeltmarkt! So schnell geht es in
derRegel nicht, und so manch hoffnungs-
vollesStartup liegt wenigeJahre nach der
Geburt bereits wieder im Sterben.
Das Problem hat bei vielen einen
Namen: Selbstüberschätzung.«Ge-
radeJungunternehmer ignorieren in
ihrer Euphorie oftFehler und Schwä-
chen in ihrem Geschäftsmodell», sagt
MarkoKovicvomBeratungsunterneh-
men Ars Cognitionis. «Sie sehen nur,
was sie sehen wollen, und blenden nega-
tive Punkteaus.»Wie die«T itanic»rasen
sie – berauscht von der vermeintlichen
Stärke– auf einen Eisberg zu.
Um «blinde Flecken» und Denkfehler
auszumerzen, hatKovic gemeinsam mit
seinem Geschäftspartner Christian Bur-
ger einenWorkshop ins Leben gerufen,
der übermotivierten Startups dieAugen
öffnen soll. «Kill your Business» – töte
dein Geschäft – nennen sie ihr Ange-
bot. Unternehmer versetzen sich dabei
in ihren ärgstenKonkurrenten und ver-
suchen,ihre eigeneFirma in Grund und
Boden zu stampfen. «T önt destruktiv»,
sagtKovic. «Aberviele erkennen erstso,
was es braucht, um das eigene Unterneh-
men vorwärtszubringen.»
Der Feind trägt Rot
In einem Sitzungszimmer im Zürcher
Kreis 5 haben sichJungunternehmer
eingefunden, um ihr einjähriges Star-
tup Eligamo zu zerstören. Dominique
Emery, Gian Luca Semadeni und Yves
Telani haben hier in der «Hafnerei»,
einem Startup-Zentrum des Bluelion In-
cubator,ihre Büros. Die Gründerken-
nen sich seit vielenJahren.Lange haben
sie in einer grossen Softwarefirma zu-
sammengearbeitet. Bevor sievierzig
wurden, kam bei ihnen der Drang auf,
«nochmals etwas zu erleben», wie es
Emery ausdrückt. Die gutenFreunde
machten sich selbständig.
Seit 20 18 arbeiten sie intensiv an
ihrem Produkt: einer ausgefeilten Soft-
ware-Lösung fürBankkundenberater.
Vor kurzem haben sie ihren ersten gros-
senAuftrag anLand gezogen.Innerhalb
von bloss dreiMonaten haben sie ihre
Lösung bei der ältesten Privatbank von
Zürich in Betrieb genommen.«Das war
für unsein grosser Schritt», sagt Sema-
deni.Weil sie als kleinesTeam mit vier
Mitarbeitern stark in die Entwicklung
der Software eingebunden sind, bleibt
aber oft zu wenig Zeit, um sich um die
mittelfristige Zukunft des Unternehmens
zu kümmern. «Uns fehlt der Blick von
aussen»,sagt Semadeni.VomWorkshop
erhoffen sie sich denn auch eine Hori-
zonterweiterung und einige Aha-Effekte.
In einer kurzen Einführung erklärt
Christian Burger von Ars Cognitionis,
woher das Prinzip «Kill your Business»
stammt. Die Ursprünge hat es im Mili-
tärwesen. In Kriegssimulationen verset-
zen sich Planer in die feindlichenTr up-
pen hinein, um die richtigen Gegenstra-
tegien zu entwickeln.Auf demReissbrett
sind diese fiktiven Bösewichterot mar-
kiert.Darum nennt man die Methode
auch «RedTeaming». Seit denTerror-
anschlägen von 9/11 setzen die US-Ar-
mee und die Geheimdienste wieder ver-
stärkt auf diese Prinzipien, nachdem sie
sie überJahre vernachlässigt hatten.
Bei der Methode gehe es darum, un-
bekannte Unbekannte («unknown un-
knowns») zu ermitteln, sagt Burger.
Diese Denkweise sei zunehmend in der
Unternehmerweltgefragt. In den USA
werde «RedTeaming»seit einigenJah-
ren ausserhalb des militärischen Be-
reichs angewandt. In Europa sei es noch
wenig bekannt. Als Beispiel, wo ein sol-
cher Ansatz hätte helfenkönnen, Miss-
erfolge abzuwenden, nennt Burger die
FotofirmaKodak. Zu lange hatte diese
an der bewährtenTechnologie festgehal-
ten und dasAufkommen der Digital-
fotografie verschlafen.Auch dasReise-
unternehmenKuoni wäre als Negativ-
beispiel zu nennen.
Woder Super-GAU lauert
SolcheFehler wollen die Eligamo-Grün-
der nicht begehen.Auf einem grossen
BlattPapier erschaffen sie zwei gefähr-
liche, fiktive Mitbewerber, die ihnen
ernsthafte Schwierigkeiten bereiten
könnten. «Das sind unser Killer-Kon-
kurrenten», sagt Emery. «Ihre Stärken
sind unsereSchwächen.» Der eine lie-
fert ein ähnliches Produkt, ist aber viel
grösser als ihrFintech-Startup Eligamo
und geht aggressiver vor. Die zweite
«Killerin» ist eine arrivierte Grossfirma,
die ihre Quasimonopolstellung sichern
will und kleinereUnternehmen erbar-
mungslos ausschaltet.
Mit diesenWidersachern imKopf er-
stellen dieJungunternehmer dann eine
«Kill-List» mit ungefähr zwanzig Punk-
ten. Bei jedem Punkt fügen sie an, wie
wahrscheinlich es ist,dass er eintritt,
und wie hoch die «Sterberate» wäre. Ein
Beispiel: NeueTechnologien wie Block-
chain bedrohen das traditionelleBank-
wesen.Manche Zukunftsforscher glau-
ben, dass esBanken nicht mehr lange
geben wird.Für Eligamo wäre dies der
Super-GAU.«OhneBanken hätten wir
keineKunden mehr», sagt Emery.Auf
ein anderes Pferd zu setzen, wie dies
grössere Mitbewerber tun könnten,
läge für das kleineTeam nicht drin. Der
«Kill-Faktor» wäre100 Prozent. Die
Wahrscheinlichkeit, dass es tatsächlich
so weitkommt, veranschlagen dieJung-
unternehmer jedoch bei bloss 5 Prozent.
AndereFaktoren sind weniger «töd-
lich», dafür aber wahrscheinlicher. So
etwa, dass dem Startup die Liquidität
fehlt, um weiter zu wachsen. Möglich
auch, dass ein aggressiver Mitbewer-
ber dank einem weitreichenden Be-
ziehungsnetz jedeAusschreibung für
sich entscheidet. In einer Grafik mit
einerx-und einery-Achse tragen die
Unternehmer die einzelnen Szenarien
mit den entsprechendenWahrschein-
lichkeiten und Kill-Punkten ein.Jene
roten Kreise in der oberen rechten
Ecke des Diagramms sind für sie be-
sonders gefährlich.
Bei derAuswertung sehen Emery
und Semadenirasch, wo die Knack-
punkte ihresJungunternehmens liegen.
Während sie in der Softwareentwick-
lung und in der Agilität grosseVorteile
gegenüber der oft trägerenKonkurrenz
haben, machen sie Schwächen imVer-
kauf und im Marketing aus. Darum wol-
len sie in diesen Bereichen besser wer-
den. Bis spätestens EndeJahr wollen
sie ihre Sales-Strategie verbessern.Da-
für werden sie mit Experten auf diesem
Feld inKontakt treten. «Da müssen wir
Gas geben»,sagt Emery.Einen grösse-
ren Fokus wollen sie auch auf die mittel-
fristige Entwicklung des Unternehmens
legen. EinVormittag proWoche werde
nun dafürreserviert.
Sich selber hinterfragen
Am Ende des gut dreistündigenWork-
shops haben dieFirmengründer eine
HandvollAufgaben im Gepäck. «Die
Erkenntnisse sind für uns zwar nicht
brandneu»,sagt Emery.Dennoch habe
sich das Gedankenexperiment gelohnt.
«Vor allem der strukturierte Ansatz hat
mich überzeugt», sagt er. NachFeier-
abend bei einem Bier werde schnellein-
mal über wichtige Zukunftsfragen dis-
kutiert. «Nun haben wir die nächsten
Schritte aber schwarz auf weiss und in
konzentrierterForm vor uns.»
Bald will Eligamo neueKunden ge-
winnen. Bis Ende 2020 sollen acht bis
zehn weitereBanken ihre Softwarenut-
zen. Ist das Selbstüberschätzung? Nein,
finden die beiden Gründer.Sie seien
überzeugt, dass sie auf dem richtigen
Weg seien. Sich dabei stetszuhinterfra-
gen, kann aber sicher nicht schaden.
Die Unternehmerversetzen sichini hre Konkurrenten und suchen nachSchwachpunktenbei der eigenen Firma. PD
Die Ursprünge hat der
Ansatz im Militärwesen.
In Kriegssimulationen
versetzen sich Planer in
die feindlichenTruppen
hinein, um Gegenstrate-
gien zu entwickeln.
BEZIRKSGERICHTBÜLACH
Raser braust mit Rekordgeschwindigkeit innerorts durch Kloten
Mit 200 Kilometern pro Stunde fährt ein junger Mann im Tempo-60-Bereich – ein Handyvideo überführt ihn
TOM FELBER
StaatsanwaltJürgBoll befasst sich im
Kanton Zürich seitJahrzehnten mitVer-
kehrsdelikten undRasern. EinFall, bei
dem jemand mit 200km/h innerorts er-
wischt worden war, hatte er aber noch
nie. Das sei auch für ihn einRekord-
wert, sagt er.
Am 2. März 20 15 beschleunigte ein
heute 27- jähriger Kaufmann auf der
Steinackerstrasse in Kloten einen auf sei-
nen Bruder zugelassenen BMW M3 bis
auf 200 km/h. An der betreffenden Ört-
lichkeit giltTempo 60. DieFahrt wurde
voneinemKollegen mitdem Handyvom
St rassenrand aus gefilmt. Erst zweiJahre
später wurde dasFilmchen im Zusam-
menhang mit einemVerfahren gegen
diesenKollegen von den Behörden ent-
deckt.DietechnischeAuswertung stellte
eindeutig eine Geschwindigkeitsüber-
schreitung von140 km/h fest. So kam der
damalige Lenker imFebruar 2017, zwei
Jahre nach derFahrt, für etwas mehr als
einenTag in Haft.
Den BMW M3 brauchten die Be-
hörden aber nicht mehr sicherzustellen.
Der Lenker hatte ihn bereits unabsicht-
lich vernichtet. Er war mit diesem noch
imJahr 20 15 in Kloten zu schnell in eine
Kurve gefahren und hatte einenTotal-
schaden produziert.DasAuto war nicht
abbezahlt, weshalb der Mann auch heute
noch 20 000 Franken Schulden hat, wie
er am Dienstag vor dem Bezirksgericht
Bülach einräumt. SeinenFühreraus-
weis musste er wegen derRaserfahrt
für zweiJahre abgeben, er hat ihn in-
zwischen aber bereits wieder erhalten.
Zum Prozesstermin fährt der Mann mit
einem alten Mercedesvor.Der 27-jäh-
rige Schweizer ist zurzeit aufJobsuche.
«Äs bitzeli viel»
«Warum sind Sie so schnell unterwegs
gewesen?», fragt der Gerichtsvorsit-
zende. Er sei damals autobegeistert ge-
wesen und habe sich in einem entspre-
chenden Umfeld bewegt. Er und seine
Kollegen hätten sich bei derAuto-
waschanlage auf der Steinackerstrasse
in Kloten getroffen. Er habe dann ein
bis zweiRunden mit demAuto gedreht.
DieFahrt wurde nachts um 23 Uhr 50
gefilmt. Es handle sich um ein Indus-
triegebiet, und es sei niemand auf der
Strasse gewesen. «Ich war mir damals
nicht bewusst, was alles hätte passieren
können», beteuert der Beschuldigte. –
«Immerhin waren es 200 km/h», hält der
vorsitzendeRichter fest, das sei selbst
aufAutobahnen «äs bitzeli viel».
«Es war Schwachsinn», bestätigt der
vollumfänglich geständige Beschul-
digte. Er werde so etwas nie mehr ma-
chen. –«Wenn wir schon bei Schwach-
sinn sind, warum wurde dieFahrt auf-
genommen?», fragt der Richter weiter.
Dass seinKollege dieFahrt gefilmt habe,
habe er gar nichtgewusst,sondern dies
erst bei derPolizei erfahren, erklärt der
Beschuldigte. Er stellt dieRaserfahrt
als Episode aus einem früheren, ande-
ren Leben dar. Er habe sich geändert. Er
seisich der Gefahren jetztbewusst und
wolle in Zukunft nicht mehr auffallen.
Die Anklage enthält auch einenPor-
nografievorwurf:Auf dem Handy des
Beschuldigten wurde einVideo gefun-
den, das sexuelle Handlungen zwischen
einerFrau und einem Hund zeigt.Auch
diesen Sachverhalt gibt der Mann zu. Er
sei in einerWhatsapp-Gruppe mitKol-
legen gewesen, in der vieleDateien und
Filmchen ausgetauscht wordenseien.
Er habe dasFilmchen gar nicht gesehen
und nichts davon gewusst. Man sehe
das daran, dass er nie auf diesesFilm-
chenreagiert habe. Er habe unbewusst
dieFunktioneingestellt gehabt, dass ein-
gehendeDaten automatisch auf dem
Smartphone gespeichert werden.
Deal zwischen denParteien
Verteidiger und Staatsanwalt hatten sich
imVorfeld des Prozesses auf ein abge-
kürztesVerfahren geeinigt. Der Ur-
teilsvorschlag lautet auf qualifizierte
grobeVerletzung derVerkehrsregeln
und hartePornografie sowie eine be-
dingteFreiheitsstrafe von 23 Monaten
bei einer Probezeit von2Jahren. Eine
bedingt ausgesprocheneVorstrafe von
30 Tagessätzen Geldstrafe wird wider-
rufen. Der Beschuldigte muss zudem
sämtlicheKosten tragen, unter anderem
auch 5667Franken für das verkehrstech-
nische Gutachten.
Das Gericht heisst denVorschlag gut.
Der Beschuldigte habe eine hohe abs-
trakte Unfallgefahr geschaffen. Obwohl
die Strasse leer gewesen sei, sei die Ge-
fahr, dass es «tätscht», hoch gewesen, er-
klärt der Gerichtsvorsitzende. Er habe
sich die Situation selber angesehen. Es
gebe an der fraglichen Örtlichkeit meh-
rereEinmündungenmit Rechtsvortritt.
Angesichts der Höhe der Sanktion sei
eine bedingte Strafe abernoch gerecht-
fertigt. Zudem habe sich der Beschul-
digte seither nichts mehr zuschulden
kommen lassen.Das Gericht gehe da-
von aus,dass er in Zukunftnicht mehr
auffallen werde.
Urteil DG190033 vom 20.8.2 019, ab gekürz-
tes Verfahren.