Neue Zürcher Zeitung - 21.08.2019

(John Hannent) #1

SPORTSMittwoch, 21. August 2019 Mittwoch, 21. August 2019 PORT


Fast wie Politik im Bundesrat


Am Eidgenössischen Schwingfest in Zug wird sich die Rivalit ät unter den Teilverbänden in der Einteilung spiegeln


MARCOACKERMANN


Das Geheimnis wird am Mittwoch
um 22 Uhr gelüftet.Dann veröffent-
licht der Schwingerverband ESV auf
seinerWebsite die Spitzenpaarungen
für den1. Gang des Eidgenössischen
in Zug. Offiziellkennen das Geheim-
nis bis jetzt zweiPersonen: SamuelFel-
ler, dem alsTechnischem Leiter des
ESVdieVerantwortung obliegt, das
Anschwingen in Eigenregie einzutei-
len. UndPaulVogel, als ESV-Obmann
der höchsteFunktionär, dem die Liste
AnfangWoche vorzulegen war. Auch
die fünfVertreter derTeilverbände, die
amWochenende mitFeller das Eintei-
lungsgericht bilden werden, erfahren
erstamspäten Mittwochabend von den
geplantenAuftaktduellen.
Für dieAustragung in Zug hat sich
Feller eine neue Philosophie zurecht-
gelegt:Früher habe er eher darauf ge-
achtet, ein grossesTalent mit einem
starken Routinier zu paaren. Dies-
mal habe erDuelle insAuge gefasst,
die noch nie stattgefunden hätten. Er
denke, das erhöhe die Unberechenbar-
keit und die Spannung. Ob er sein Ziel
erfüllt habe, könne er aber erst nach
demFest sagen.
Die Bedeutung des1. Gangs ist um-
stritten. Die einen meinen, mankönne
sich eine Niederlage erlauben und habe
immer noch gute Chancen,König zu
werden – und untermauern dieseThese
mitJörgAbderhaldensFestsieg imJahr



  1. Die anderen meinen, das An-


schwingen sei zu wichtig, als dass man
dieVerantwortung dafür in die Hände
eines einzigen Mannes legenkönne;
sie wittern die Möglichkeit einerVer-
schwörung.
Wenn in den vergangenenWochen
über dieKönigsanwärter für das Eid-
genössische debattiert wurde, hiess es
immer wieder: Die Berner hätten zwar
keinen Topfavoriten mehr, aber ihr
Tr umpf sei vielleicht der Chef inder
Einteilung,SamuelFeller. BevorFeller
zumTechnischen Leiter des ESV auf-
stieg, hatte er an zwei Eidgenössischen
die Berner im Einteilungsgericht ver-
treten, und beide Malesetzte sich einer
seiner Kämpfer durch.Auch der Ber-
ner NachfolgerPeter Schmutz hat Er-
fahrung, wie man einen Schwinger auf
denKönigsthron hievt–dies im Gegen-
satz zu den anderen Einteilern aus dem
Nordosten, dem Nordwesten, dem Süd-
westen und der Innerschweiz. Der Chef-
einteiler wechselt alle sechsJahre,im
Turnus derTeilverbände.

Zu Gast beiFreunden?


Der ehrenamtlich tätigeFeller wider-
setzt sich demVorwurf derParteilich-
keit. Erkenne nur ein Ziel: «Dem Publi-
kumattraktive Kämpfe zu bieten.» Und
da gehöre es dazu, «nicht alle Schwin-
ger glücklich zu machen», egal aus wel-
chemTeilverband sie stammten.Feller
sagt, es gebe kaum Situationen, in denen
die Meinungen in der Einteilung so aus-
geglichen seien, dass er einen Stichent-

scheid fälle. «Zu 99 Prozent findet sich
eine Mehrheit.»
Das Gremium gemahnt manchmal
an den Bundesrat. DieVertreter haben
unterschiedliche Ansichten und Inter-
essen,Druckaus ihrenFraktionen,und
am Schluss muss sich diese Schicksals-
gemeinschaftaufeinenKonsens einigen
können. Die Zeitnot ist gross, pro Minute
werden bis zu vierPaarungen gebildet.
Und ein Einteiler an einem Eidgenössi-
schen sollte alle der knapp 280 Schwin-
gerprofile imKopf haben; sie sindwie
Schachspieler,die merken müssen, wann
sie welcheFigur ziehen, um anzugreifen.
Aus den Diskussionen über die Ein-
teilung und die Rivalität unter denTeil-
verbänden hat dieFaszination für das
Schwingen seit je Kraft gezogen.Wenn
ein böser Kämpfer irgendwo als Gast
antritt, kann er sich darauf gefasst ma-
chen, dass er als Gegner lauter harte
Brocken vorgesetzt bekommt. Aber
wenn man offensiv geschwungen habe,
sei das auch ausserhalb der eigenen
Verbandsgrenzen honoriert worden,
sagt Arnold Ehrensberger, der Zürcher
Schwingerkönig von1977.
Viele Widersacher aus fremden
Regionen seienFreunde fürs Leben
geworden. Und auch wenn er einFest
gewonnen habe:Wenig später habe er
wieder für «etwas mehr als 30 00 Stutz
im Monat» imRestaurant desVaters
mitgeholfen.Das mit derKollegiali-
tät sei mit den heutigen Geldflüssen
wohl problematischer geworden. Der
Schwingerkönigkönne ja mehr als ein

Bundesrat verdienen, und der Schluss-
gang-Verlierer bleibe womöglich im
Vergleich ein Bettler.

«Das war eine Explosion»


Was beim Blick in die Geschichte augen-
fällig scheint: Immer wenn ein Schwinger
eine Übermacht darstellte, formierte sich
in einem andernTeilverband eine Gegen-
bewegung, in derdieMotivation loderte,
dieVorherrschaft wieder an sich zureis-
sen. Man denke nur an die Berner nach
dem ZweitenWeltkrieg.Sie mussten
überJahre mit ansehen, wie derBasel-
bieterPeterVogt und der ZürcherWalter
FlachFestsiege unter sich ausmachten –
und sich später gut verstanden.
Und als deren Zeit vorbei war,
tauchte Flachs Klubkollege Karl Meli
auf. Er war überall der Kämpfer, den
es zu schlagen galt. Die Berner litten.
Als1966 das Eidgenössische bevor-
stand, warteten sie schon 23Jahre auf
ihren nächstenKönig – und der letzte,
der für sie triumphierthatte,war erst
noch einer,zu dem sie ein gespaltenes
Verhältnis hatten.WillyLardon war
kein «treuer Berner». Er stammte aus
dem jurassischenTeil des Kantons und
sympathisierte mit denFrankofonen, die
sich von Bern abspalten wollten.
Und dann dieser Schlussgang1966:
Meli traf aufRudolf Hunsperger,einen
20-jährigen Berner Rekruten. Und
Hunsperger schaffte,was kaum jemand
für möglich gehalten hatte: Er fällte den
turmhohenFavoriten.DerSchwinghisto-

riker und langjährige NZZ-Mitarbeiter
HansTr achsel erinnert sich: «Der Berner
kommt ja von Natur aus nicht gerne aus
sich heraus,aber wie dieser Sieg gefeiert
wurde, das war eine Explosion.»
Zwanzig Jahre später ein ähnli-
ches Bild mit vertauschtenRollen:Was
1966 Meli gewesen war, war1986 Ernst
Schläpfer. Und was für die Berner ge-
golten hatte, galt nun für die Inner-
schweizer. Diese warteten nach 91Jah-
ren immer noch auf einen Schwinger-
könig, und dieser Appenzeller Schläpfer,
ein angehender Doktor mitneumodi-
schenTr ainingsmethoden, war ihnen so-
wieso suspekt. So unternahmen sie alles,
um den König Schläpfer zu stürzen.
Als Leo Betschart im vorletzten Gang
gegen Schläpfer merkte, dass er sei-
nen Lebenstraum vomKönigstitel nicht
verwirklichen kann, wollte er wenigs-
tens denGegnerzermürben, um ihn
für den Schlussgangauszulaugen.Kurz
darauf sollte Harry Knüsel, Betscharts
Klubkollege, Schläpfer entthronen. Die
Innerschweizer explodierten.
Und nun, 2019? Ein zweiterKönig für
die Innerschweiz? Die Chancen stehen
gut.Wenn die Innerschweizer so stark
schwingen wie am Brünig, sind sie von
keiner Einteilung zu stoppen. Und: Nie-
mand würde mehr über die Einteilung
debattieren,sollte einer mit achtSiegen
aus acht Kämpfen gewinnen, wie das zu-
letzt den Bernern KilianWenger (2010)
und Matthias Sempach (2013) gelun-
gen ist. Der Chefeinteilerwar übrigens
in beidenFällen ein Südwestschweizer.

QUELLE: EIDGENÖSSISCHER SCHWINGERVERBAND NZZ Visuals/lea., saf., nth., krp.

So sinddieSchwingerinder Schweiz verteilt


Schwingklubs nach Anzahl Mitglieder

SchwingklubWattwil
Lange nannte man dasToggenburg auch «Königstal».
De rGrund dafür war die Dominanz des Schwingklubs
Wattwil. Mit Jörg Abderhalden und Arnold Forrer
stellte dieserVerein zwischen 1998 bis 2007 viermal
in Serie den Schwingerkönig.

SchwingklubMarch-Höfe
Mit 136 Mitgliedern ist der Schwingklub aus dem
schwyzerischenTuggen der grössteder Schweiz. Eugen
Hasler stieg für diesen Klub in den Ring. «Geni Schränz»,
wie er in den Schwingerkreisen genannt wurde, war in
den 1980er und 1990er Jahren der wohl stärkste aller
Schwinger, war allerdings nie König.

Bellinzona
DerSchwingklub Bellinzona ist der einzige imTessin. Dort
trainieren9Aktivschwinger und5Junioren. Anfang Jahr
wurden dieTessiner in den InnerschweizerVerband
aufgenommen. Am Eidgenössischen ist allerdings keiner
von ihnen dabei. Ab 2021 wird alle drei Jahre einTessiner
Kantonalfest ausgetragen.

Schwingklub Sense
HinterdemRöstigraben sind die Schwingklubs seltener.
Der Südwestschweizer Schwingverband geht in Zug
ohne einen Eidgenössischen Kranzer an den Start. Als
letzterWestschweizer sicherte sich der Freiburger
Hans-Peter Pellet 2010 in Frauenfeld den Kranz.

Entlebuch /AmMythen
Diemeisten Schwingklubs gibt es in den Innerschweizer
Kantonen, dieVereine im Entlebuch und am Mythen gehören
zu den grössten der Schweiz. Mit 85 stellen die Innerschweizer
am Eidgenössischen die meisten Schwinger.Den König stellte
die Innerschweiz erst einmal, Harry Knüsel triumphierte 1986
in Sitten.

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