Frankfurter Allgemeine Zeitung - 30.08.2019

(Dana P.) #1

SEITE 12·FREITAG, 30. AUGUST 2019·NR. 201 Feuilleton FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


M


ittlerweile wird Yang Wei
wohl in China angekommen
sein. Auf Beschluss der Aus-
länderbehörde von Kanada.
Es ist das erste Mal, dass ein ehemaliger
Tiananmen-Gefangener von dort an Chi-
na ausgeliefert wird.
Der konkrete Grund dafür ist, dass
Yang Wei 2012 in Kanada einen Bus ge-
nommen hat und es darin wegen eines
Missverständnisses einen Konflikt gab.
Yang Wei hat geschrien und den Busfah-
rer bedroht, mit einem Messer herumge-
fuchtelt. Deshalb wurde er wegen Gefähr-
dung der Öffentlichkeit zu sieben Jahren
Gefängnis mit nachfolgender Abschie-
bung verurteilt.
Jemanden, der durch seine Haft in Chi-
na geistig verwirrt worden ist, wieder
dorthin ins Gefängnis zu schicken wider-
spricht jeglicher Humanität. Was Yang
Wei braucht, ist psychiatrische Behand-
lung. Hat Kanada je feststellen lassen, ob
er zurechnungsfähig ist? Die Exilschrift-
stellerin Sheng Xue hat mir einen Artikel
aus der kanadischen Zeitung „Globe and
Mail“ geschickt, Dort steht, dass Yang
Wei bei seiner letzten Anhörung immer
wieder gerufen habe: „Schickt mich zu-
rück! Schickt mich zurück nach China!“
Ist das nicht der Schrei eines Geisteskran-
ken? Wenn sich die Leute in Hongkong
nicht mehr wehren, werden wir alle eines
Tages auch schreien: „Schickt mich nach
China! Schickt mich nach China!“
Von all den Gefangenen nach dem 4.
Juni 1989, die in meinem Buch „Die Kugel
und das Opium“ als Gesprächspartner auf-
treten, haben es nur zwei geschafft, ins
Ausland zu entkommen. Der eine war Xu
Zhijian, er ist 2017 gestorben. Der andere
ist Yang Wei, mein alter Freund aus dem
Gefängnis Nummer 3 der Provinz Sichuan.
Nach seiner Entlassung gab es im Juni
1998, als der amerikanische Präsident
Clinton China besuchte, ein Tauwetter.
Das politische Klima in China entspannte
sich. Und so wurde in einer koordinierten
Aktion in Peking, Wuhan, Chengdu,
Xi’an und Hangzhou die Demokratische
Partei Chinas gegründet. Das Tauwetter
war kurz, alle führenden Kräfte der jun-
gen Oppositionspartei wurden verhaftet
und zu schweren Strafen verurteilt. In
meiner Provinz Sichuan waren das unter

anderen Liu Xianbin, She Wanbao, Hu
Mingjun, Wang Sen und Li Bifeng. Yang
Wei war auch an der Parteigründung be-
teiligt. Er ist damals als Einziger unter
Dutzenden Gesuchten entkommen.
Im Vorfrühling 1999 hat Yang Wei auf
einmal an meine Tür geklopft, nach mo-
natelanger Flucht. Ich habe ihn durch den
Türspion gesehen, aber als ich aufge-
macht hatte, war er schon wieder unten.
Ich bin ihm bis zum nächsten Teehaus ge-
folgt, gleich an der Außenmauer von der
Wohnanlage Huangzhong, wo ich damals
lebte. Aber dort im Teehaus haben wir
uns auch nicht sicher gefühlt, also sind
wir zu einem Feuertopf-Restaurant gegan-
gen und haben uns dort in einen Neben-
raum verzogen. Er hat mir seinen Plan un-
terbreitet, aus China zu fliehen. Ich habe
gesagt: „Das ist zu gefährlich.“ Darauf hat
er gesagt: „Du bist berühmt, die Polizei ist
ein bisschen höflicher zu dir. Aber das
letzte Mal, als sie mich geschnappt haben,
haben sie mich zuerst stundenlang kopf-
über aufgehängt, dann am Kopf gepackt
und gegen die Wand geschlagen, bis ich
ohnmächtig war. Mein Hirn funktioniert
nicht mehr gut, ich vergesse viele Sachen,
wenn ich mich anstrenge, wird mir
schwindlig. Wenn die mich wieder einfan-
gen, ist es aus.“
Ich war sprachlos, konnte nur ein paar
hundert Yuan herausnehmen und sie ihm
aufdrängen. Aber ein paar Tage später
hat er sich wirklich mit einem gefälschten
Ausweis einer Reisegruppe angeschlos-
sen und ist nach Bangkok gelangt. Dort
ist er zur amerikanischen Botschaft ge-
rannt. Leider konnte er sich nicht verstän-
digen, also hat der Wächter ihn nicht
durchgelassen. So ist Yang Wei in der
Fremde auf der Straße gelandet wie ein
streunender Hund. Dort haben ihn Mön-
che vor Schwäche ohnmächtig gefunden
und in ihrem Tempel aufgenommen.
Yang Wei war vier Jahre in Bangkok.
Er hat mich immer wieder um Hilfe gebe-
ten. Ich habe mich in New York an Liu
Qing gewandt, den Präsidenten von Hu-
man Rights in China, und an Xu Wenli,
der schon in Rhode Island im Exil war.
Am Ende habe ich das UNHCR dazu ge-
bracht, seinen Status als ehemaliger
Tiananmen-Gefangener zu bestätigen.
Danach hat ihn Kanada aufgenommen.
Wir waren mehr als zwanzig Tianan-
men-Gefangene im Gefängnis Nummer 3
der Provinz Sichuan, die meisten haben
es die ganze Zeit sehr schwer gehabt. Vie-
le haben weiter an ihre Ideale geglaubt,
sie sind immer wieder eingesperrt wor-
den, so Xu Wanping, Li Bifeng, She Wan-
bao, Liu Xianbin und Chen Wei. Nur
Yang Wei hatte es noch vor mir ins Aus-
land geschafft, also haben die anderen im-
mer ein bisschen neidisch über ihn gere-
det. Freiheit ist natürlich eine gute Sache.
Jetzt hat man ihn wieder eingefangen.
Liao Yiwulebt als chinesischer Schriftsteller im
Exil. 2012 erhielt er den Friedenspreis des
Deutschen Buchhandels. Zuletzt erschien von
ihm auf Deutsch „Herr Wang, der Mann, der vor
den Panzern stand – Texte aus der chinesischen
Wirklichkeit“ (S. Fischer).

Frau Stern würde gern ihrem Leben ein
Ende machen. Sie ist alt genug dafür, wie
sie meint. Zwar wirkt sie überraschend fit
oder, wie die einschlägige Vokabel für be-
tagte Menschen lautet: rüstig. Nicht ein-
mal die vielen Zigaretten scheinen ihr et-
was anzuhaben. Aber sie weiß, dass das
nicht ewig so weitergehen kann. Sie kann
nicht auf Dauer in Berlin unter jungen
Hipstern in Neukölln so leben, als gälte
die coole Unbeschwertheit auch für sie,
eine Frau von neunzig Jahren. Sie hört
sich um, sie sucht nach einer Waffe, und
sie hat ja keine schlechten Verbindungen,
sie kennt Dealer und einen Friseur, der zu
ihr ins Haus kommt. Der müsste doch et-
was wissen. Doch Frau Stern wird nicht
ernst genommen. Sie ist eine Überleben-
de. Das wird sie nicht mehr los, nicht ein-
mal durch ihren Todeswunsch.
Im richtigen Leben hieß Frau Stern
Ahuva Sommerfeld. Zu Beginn dieses
Jahres war sie noch ein überraschender
Stargast beim Max-Ophüls-Preis, wo der
Film, in dem sie ihre einzige Hauptrolle
spielte, als große Entdeckung gefeiert
wurde. Der junge Regisseur Anatol
Schuster hatte sie entdeckt und ihr eine
Figur auf den Leib geschrieben – diese ge-
läufige Formulierung bekommt durch
den Film „Frau Stern“ eine ungewöhn-
liche Prägnanz, denn tatsächlich geht es
sehr stark um Verkörperung, auch dar-
um, dass ein Individuum zugleich für
eine Gemeinschaft steht.
Frau Stern ist Jüdin gleichsam mit
Haut und Haar. Dass sie in Neukölln lebt,

als wäre sie Teil der neuen Berliner Bo-
hème, mag auch als ein Detail des Frie-
dens gesehen werden, den viele junge
Menschen aus Israel mit der Gesellschaft
gemacht haben, aus der vor knapp acht-
zig Jahren der Versuch einer systemati-
schen Judenvernichtung kam. „Ich hab
Auschwitz überlebt, also werde ich auch
das Rauchen überleben“, sagt Frau Stern
einmal im Film.
Der Satz markiert zugleich ein kollekti-
ves Schicksal wie eine fiktionale Diffe-
renz: In der eigenen Haut hat Ahuva Som-
merfeld Auschwitz nicht „überlebt“, sie
war während der NS-Jahre in Palästina
und kam erst später nach Deutschland.
Ob Auschwitz für Frau Stern im Film eine
persönliche Erfahrung war oder eher
eine Chiffre ist, mit der sie sich mit einer
geschichtlichen Erfahrung identifiziert,
lässt Anatol Schuster markant offen. Da-
bei steckt eine wichtige Pointe dahinter,
denn das Überleben von Frau Stern be-
kommt durch die Geschichte noch ein-
mal ein anderes Gewicht. Sie schlägt, für
die Dauer der knapp eineinhalb Stunden
des Films, nicht nur dem eigenen Tod ein
Schnippchen. Auf ihren kostbaren Stun-
den liegt ein anderer Akzent von Vanitas
als bei einer Frau, die nie in die Nähe
lebensbedrohlicher Ausschließung, ge-
schweige denn tatsächlicher Deportation
in den Tod gekommen war.
Diese Facetten sind wichtig, denn an-
dernfalls könnte man „Frau Stern“ zu
leicht für ein problemloses Dokument be-
sagter Aussöhnung halten. Es hat bei-

nahe etwas Utopisches, wie Anatol
Schuster den Alltag in Berlin schildert.
Die jungen Leute leben wie in einem
Mainstream der Minderheiten, hier kann
wirklich jedes Menschenwesen nach sehr
spezieller Façon selig oder zumindest bei
einem großzügigen Gastmahl satt wer-
den, und wenn es mal wo weh tut, finden
sich leicht lindernde Mittel auf pflanz-
licher Grundlage. Frau Stern fühlt sich in
dieser Welt wohl, und davon, dass Neu-
kölln „gefährlich“ wäre, wie sie einmal
sagt, ist wenig zu bemerken.
Die unbefangene Gegenwart, die auch
über das Alter von Frau Stern mit geister-
abwehrender Selbstverständlichkeit hin-
wegsieht, konterkariert Anatol Schuster
durch die beiden Figuren, die Frau Stern
am nächsten stehen – ihre Tochter und
deren Tochter. Die Schauspielerin und
Sängerin Nirit Sommerfeld ist auch im
Leben die Tochter von Ahuva Sommer-
feld. Sie vertritt ein vergleichsweise
orthodoxeres Judentum, mit einer größe-
ren Nähe zum Staat Israel. Die wichtigste
Bezugsperson für Frau Stern ist jedoch
Elli, ihre Enkelin, gespielt von Kara
Schröder. Sie lebt in der Welt der Genera-
tion, in der keine Täter von damals mehr
zu vermuten sind.
Anatol Schuster versteht seinen Film
als ein „Denkmal“ für Ahuva Sommer-
feld. Er hätte ohne weiteres auch einen
klassischen Dokumentarfilm über sie ma-
chen können. Die Form, die er gewählt
hat, gibt ihm ein wenig mehr Freiheit für
die poetische Interpretation. An der

einen oder anderen Stelle merkt man,
dass „Frau Stern“ eine kleine Produktion
ist: der Auftritt in einer Fernseh-Talk-
show wirkt surrealer, als es vielleicht
gedacht war. Aber die besonderen Um-
stände dieses Films ließen kein anderes
Vorgehen zu. An eine Produktions-
vorbereitung im herkömmlichen Sinn
war nicht zu denken, die Gunst der Stun-
de musste genutzt werden.
Der Erfolg beim Max-Ophüls-Preis,
wo Ahuva Sommerfeld und Kara Schrö-
der als beste Darstellerinnen ausge-
zeichnet wurden, hat das Wagnis mit
„Frau Stern“ dann auch gleich bestä-
tigt. Die deutschen Filmförderungen
sind auf solche Projekte nicht einge-
stellt, hat Anatol Schuster bemerkt und
verband damit eine Anregung: Irgend-
wo in den Nischen des Antragswesens
sollte vielleicht auch Platz sein für Bud-
gets, die für Projekte reserviert sind,
bei denen noch nicht alles bis auf den
letzten Drehbuchstaben hin ausentwi-
ckelt ist. Dafür hätte Ahuva Sommer-
feld tatsächlich keine Zeit mehr gehabt.
Sie starb kurz nach der Premiere von
„Frau Stern“. Sie ist nun in dem Medi-
um verewigt, das den Tod zwar nicht be-
siegen, aber ihm einen Trost abringen
kann: In Bild und Ton, mit verrauchter
Stimme und mit einem wehmütigen
Blick, singt Frau Stern von einer Zeit,
in der das Leben leicht ist. Eine Zeit,
die es vielleicht wirklich nur im Kino
geben kann, die in „Frau Stern“ aber
höchst lebendig wird. BERT REBHANDL

I


hre Stimme begleitet uns den gan-
zen Abend über: kurze, präzise Kom-
mandos vom Pass an Köche und
Kellner, nicht im Kasernen-, aber
auch nicht im Plauderton und so be-
stimmt erteilt, dass jeder sofort springt
und sich sputet. Es ist der Ton einer Frau
von napoleonischer Statur, die nicht nur
ihre Küchenbrigade, sondern auch eine
ganze Armee befehligen könnte. Und wie
schön wäre die Welt, wenn es einzig und
allein Kommandeure wie Douce Steiner
gäbe, die keine Feinde, nur Freunde
kennt und uns gleich zu Beginn des
Menüs einen Beweis nach dem anderen
dafür aus ihrer Küche schickt: ein pri-
ckelnd frisches Karotten-Koriander-Ing-
wer-Süppchen in einer Tonschale klein
wie ein Hühnerei, eine kraftstrotzende
und trotzdem hochfeine Rotbarbe mit Au-
berginen-Chip, geschmorter Paprika, Zuc-
chini und Frischkäse, eine marinierte
Gelbschwanzmakrele mit Langoustine
Royale, Gurken-Tomaten-Saft, geeister
Basilikum-Creme und Salicorn, die so
herrlich nach der Seele des Meeres
schmeckt, dass wir für einen Augenblick
glauben, nicht den Sulzbach, sondern den
Atlantik draußen rauschen zu hören.
Douce Steiner ist eine Solitärin in
Deutschlands Hochküche: die einzige
Zwei-Sterne-Köchin, das einzige weibli-
che Oberhaupt einer deutschen Spitzen-
kochfamilie und die einzige Frau, die
eines Tages eine Haute-Cuisine-Dynastie
begründen könnte. Am Anfang der Ah-
nentafel steht ihr Vater Hans-Paul Stei-
ner, der zu den Pionieren des deutschen
Küchenwunders gehörte, 1980 den „Hir-
schen“ in Sulzburg im Markgräflerland
übernahm, sich mit seiner klassisch fran-
zösischen Haute Cuisine ebenfalls zwei
Sterne erkochte, seine Tochter selbst aus-
bildete und danach zu den Drei-Sterne-
Granden Harald Wohlfahrt und Georges
Blanc schickte, um ihr 2008 schließlich
Haus und Küche zu übergeben. Seither
kocht sie in dem fünfhundert Jahre alten
Gebäude mit seinen knarzenden Dielen
und der unprätentiösen Wohnzimmerat-
mosphäre nicht etwa auf konstant hohem
Niveau, sondern wird immer besser, präzi-
ser, reifer, ersetzt die Sahnesaucen der
Grande Cuisine durch Fonds, Bouillons
und Essenzen, verzichtet auf ihren baro-
cken Zierrat zugunsten einer strikten
Konzentration auf einen einzigen Teller-

hauptdarsteller und lässt alle kulinari-
schen Moden mit der Gelassenheit einer
Frau ohne Allüren an sich vorbeiziehen.
Diese Souveränität mündet in Gerich-
ten wie dem Délice von der Wachtel, die
gemeinsam mit einer Riesengarnele, ma-
rinierten Kopfsalatherzen, ausgestoche-
nen Melonenkugeln, einem Wachtelspie-
gelei und einer Praline von der Wachtel-
keule auf einem Durcheinander aus Wald-
pilzen liegt – „méli-mélo“ nennt Douce
Steiner das Chaos auf ihrer Karte viel
charmanter und erweist damit auch ihrer
französischen Mutter Claude die Hon-
neurs, während sie ihre Gäste mit der Er-
kenntnis verblüfft, wie gut die intensive
Süße und der feine Schmelz des Vögel-
chens und des Krustentieres harmonie-
ren. Ihre Meisterschaft zeigt sie auch bei
den scheinbar schlichteren Gerichten,
etwa den Erbsenravioli, die von Minze,
Melisse, schwarzem Pfeffer, frischen Erb-
sen, Haselnüssen und einem Sud aus Sel-

lerie und Apfel begleitet werden. Feder-
leicht und trotzdem aromenstark ist das,
ein „méli-mélo“ aus der Lebendigkeit der
Kräuter, der gebirgsbachklaren Frische
des Suds, dem kecken Biss der Haselnüs-
se, der Samtkissenweichheit der Ravioli:
eine klassische Haute Cuisine auf Spitzen-
niveau ohne eine Spur von Musealität.
„Ich mag die alte Schule“, sagt Douce
Steiner und meint damit nicht nur eine ku-
linarische Welt, sondern eine ganze Welt-
anschauung. Teller müssen bei ihr weiß
und rund, Tische dürfen niemals nackt
ohne weiße Decken sein. Sie selbst trägt
ausschließlich blütenweiße Kochjacken
statt des modischen Schwarz – „wir sind
doch keine Schornsteinfeger“, sagt sie
dazu nur lakonisch –, und auch die gegen-
wärtige Hysterie um den kulinarischen
Regionalismus ist ihr suspekt. Hummer
und Languste gehören für sie selbstver-
ständlich in ihre Küche, das Lamm aus
dem Limousin, die Tauben aus der Bresse

hält sie für unübertroffen, die Vorstellung
hingegen, den ganzen Winter über nur
Kohl zu kochen, ist ihr ein Graus. „Wir
Köche leben heute in der schönsten Zeit,
weil wir alles bekommen können, wäh-
rend mein Vater noch nach Paris fahren
musste, wenn er Wachteln wollte“, sagt
Douce Steiner, die sich allerdings von
einem Ballast der alten Schule katego-
risch befreit hat: Respektlosigkeit und
schlechte Umgangsformen duldet sie in
ihrer Küche nicht, in der mit Pfannen aus-
schließlich gekocht, nie geworfen wird.
In die Pfanne wandert zum Beispiel
eine dicke saftige Tranche vom Steinbutt,
die mit Impérial-Kaviar gekrönt, von
einem seidendünnen Kartoffelchip beglei-
tet, mit einem Zitronen-Jus kontrastiert
und einer Sauce Hollandaise nappiert
wird – die aber nichts mehr mit der klassi-
schen Variante voller Butterbombast zu
tun, sondern ein Purgatorium hinter sich
hat und jetzt so luftig wie eine Cumulus-
Wolke auf dem Teller liegt. Auch beim
bretonischen Hummer bleibt sich die Che-
fin treu, kombiniert Kraft mit Eleganz
und Leichtigkeit mit Intensität, braucht
dafür nicht mehr als Blattspinat und mari-
nierten Rhabarber, Piment d’Espelette
und eine Krustentier-Bouillon und er-
laubt sich eine der ganz wenigen winzi-
gen Schwächen des Abends, weil sie den
Rhabarber minimal zu üppig portioniert,
so dass sie dem Hummer einen zweiten
Hauptdarsteller an die Seite stellt. Das
Reh hingegen hält wie der König des Wal-
des auf seinem Teller Hof, umgeben von
zerstoßenen Fichtensprossen und Oran-
genzesten, einem Wacholder-Jus, Preisel-
beeren und Orangen, einer expressionisti-
schen Blätterteigskulptur und ungeheuer
zarter Entenleber im Spitzkohlblatt.
Mit dem letzten Kommando kommt
das Dessert als erfrischender, Erdbee-
ren, Dill, Holunder und Muskat ver-
einender Abschiedsgruß aus der Küche,
in der Douce Steiner seit vielen Jahren
gemeinsam mit ihrem Mann Udo Weiler
und seit kurzem auch mit ihrer Tochter
Justine kocht. Sie macht bei der Mutter
eine Lehre wie einst die Tochter beim
Vater, und alles Weitere wird sich wei-
sen. Bei einer Familie wie den Steiners
steht indes nur das Schönste zu befürch-
ten. JAKOB STROBEL Y SERRA
„Hirschen“,Hauptstraße 69, 79295 Sulzburg,
Telefon: 07634/8208, http://www.douce-steiner.de.
Menü ab 135 Euro.

Ich bin doch


kein Schornsteinfeger


Das widerspricht


jeglicher Humanität


Geschmackssache


Unter den Alternative-Country-Musikern,
die in den vergangenen 25 Jahren dieAme-
ricanaals einen nicht ganz neuen, aber so
eben doch noch nicht gehörten Stil schufen
und in sturem Traditionsbewusstsein ge-
gen allerlei zeitgenössische Spielarten absi-
cherten, war Neal Casal einer der produk-
tivsten. 1968 in New Jersey geboren, geriet
er mit zwanzig in den Dunstkreis des an Ly-
nyrd Skynyrd orientierten Southern Rock
und machte sich fünf Jahre lang als Gitar-
rist bei Blackfoot nützlich, bevor er Mitte
der Neunziger seine ein Dutzend Alben um-
fassende Solokarriere begann, deren fünf-
tes, das überlange, introvertierte „Base-
ment Dreams“ (1998) vom „Mojo“-Maga-
zin als das Americana-Album des Jahres ge-
priesen wurde. Die Reputation, die er sich
mit breitem Repertoire, vorzüglicher Tech-
nik und warmem Singer-Songwriter-
Timbre erspielte, kam über Insider-Kreise
kaum hinaus und wurde zusätzlich über-
schattet von dem Superstarruhm, den ein
Maniac wie Ryan Adams damals errang.
Dessen Band The Cardinals schloss
Casal sich denn auch mit einer gewissen
Folgerichtigkeit an, wissend vielleicht, dass
die Rolle als brillanter Sideman ihm eher
zukam als die eines aufsehenerregenden
Leaders oder Solisten. So verhalf er Adams

zu mehr Stabilität und brachte weiterhin
eigene Platten heraus, unter denen „No
Wish To Reminisce“ (2006), vor allem
dank dem betörend melancholischen, en-
gelsgleich gesungenen Walzer „Remember
What It’s Like“, seine schönste sein dürfte.
In jener Zeit stellte er auch das Trio Hazy
Malaze für drei Platten zusammen, die je-
der im Schrank haben sollte, der sich für
dickflüssigen Bluesrock interessiert und
sich dabei an funkigen Untertönen nicht
stört (F.A.Z. vom 23. April 2005). Mit Ryan
Adams war er für ein paar Doppelsolokon-
zerte auch in Deutschland zu erleben
(F.A.Z. vom 19. Oktober 2006).
Das zweite große Kapitel seiner Team-
playerkarriere schlug er mit den Hard Wor-
king Americans und in der Chris Robinson
Brotherhood des ehemaligen Black-Cro-
wes-Shouters auf, einer Art psychedeli-
scher Allman Brothers. Mit ihr war er noch
im Juli in Aschaffenburg zu erleben, und
der Unterzeichnende unternahm, als er
ihn draußen vor der Tür schon ganz deran-
giert herumlaufen sah, den Versuch, ihm
seine Bewunderung auszudrücken. Heftig
winkte der Angesprochene ab – Anzeichen
einer tiefer greifenden Verstörung? Jeden-
falls hat sich Neal Casal, eine Schlüsselfi-
gur der Americana-Musik, nun fünfzigjäh-
rig das Leben genommen. EDO REENTS

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Den Tod bei der Arbeit aufhalten


Anatol Schusters Film „Frau Stern“ erzählt mit minimalen Mitteln von einer halbfiktiven Neunzigjährigen


Zwei Michelin-Sterne, die Familie mit am Herd und ein blendend
laufendes Restaurant: Douce Steiner scheint im Sulzburger
„Hirschen“ ihr Glück gefunden zu haben. Man gönnt es ihr sehr.

Wunschloses Unglück


Zum Tod des amerikanischen Rockmusikers Neal Casal


Vor dreißig Jahren saß


ich zusammen mit


Yang Wei in einem


chinesischen Gefängnis.


Jetzt wird er von


Kanada wieder nach


China abgeschoben.


Von Liao Yiwu


Guter Draht zu jungen Menschen: Frau Stern (Ahuva Sommerfeld, links) weiß, wo man ein ernsthaftes Gespräch führen sollte. Foto Neue Visionen
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