Frankfurter Allgemeine Zeitung - 30.08.2019

(Dana P.) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilleton FREITAG, 30. AUGUST 2019·NR. 201·SEITE 11


Wenn man den Haupteingang der
Humboldt-Universität zu Berlin durch-
schreitet, kann man den mächtigen
Büsten der beiden Namenspatrone zu-
nicken, Wilhelm und Alexander von
Humboldt. Beim Zweiten, dessen 250.
Geburtstag die Universität in dieser
Woche begeht, steht ein Ehrentitel da-
bei: „Zweiter Entdecker Kubas“. Die
Büste ist ein Geschenk der Universität
von Havanna aus dem Jahr 1939. Drin-
nen, im Senatssaal, spricht an diesem
Abend über „Wissenschaft und Macht



  • von Sklaverei, Kolonialismus und Re-
    volution“ der kubanische Gelehrte
    Iván Muñoz Duthil auch davon: wie
    lange die Dankbarkeit eines Landes
    währt, das von Humboldt genauer und
    vielfältiger erforscht wurde als von
    irgendeinem lateinamerikanischen
    Zeitgenossen. Kuba, so Muñoz, sei
    dem Weltreisenden als das freieste
    Land der Erde erschienen, und der Pro-
    fessor legt in den Satz keinerlei Ironie,
    die möglicherweise auf das Castro-
    Regime zurückspiegeln könnte.
    Wie aber hielt der stressresistente,
    grenzenlos neugierige Alexander von
    Humboldt (1769 bis 1859) es mit Skla-
    verei und Kolonialismus? Der Modera-
    tor Michael Zeuske vom Institut für Ibe-
    rische und Lateinamerikanische Ge-
    schichte heizte die Neugierde des Publi-
    kums an, indem er aus den Tagebü-
    chern von 1804 zitierte, Humboldt
    habe gegen Ende seiner fünfjährigen
    Reise durch Mittel- und Südamerika
    beim bedeutendsten Sklavenhändler
    seiner Zeit logiert. Aha, denkt man,
    das sieht nicht gut aus, besonders aus
    der antikolonialistischen Perspektive
    von heute! Die Entwarnung folgte
    aber sogleich aus dem Mund der Wis-
    senschaftshistorikerin Sandra Rebok.
    Es sei Usus der Zeit gewesen, mit Emp-
    fehlungsschreiben zu reisen und dabei
    die Gastfreundschaft der Mächtigen zu
    nutzen. Humboldt etwa war mit einem
    Passierschein des spanischen Königs
    unterwegs durch Territorien, die sich
    schon bald darauf gegen ebendiesen
    König erheben würden. So wie sich ver-
    schiedene Staaten die Dienste des For-
    schers zunutze machen wollten – von
    Spanien und Preußen bis zu Russland
    und den Vereinigten Staaten –, so be-
    nutzte auch Humboldt seinerseits die
    Staatenlenker: als Auftraggeber, Er-
    möglicher und Finanziers.
    Dass er die Praxis der Sklaverei und
    das Wirken der Missionsmönche in der
    Neuen Welt für verheerend hielt, dar-
    an lassen seine persönlichen Aufzeich-
    nungen allerdings nicht den geringsten
    Zweifel. „Keine Religion predigt die
    Unmoral“, notierte er 1802 über seine
    Zeit im heutigen Venezuela, doch si-
    cher sei, „dass von allen existierenden
    die christliche Religion diejenige ist,
    unter deren Maske die Menschen am
    unglücklichsten werden“. In seiner Ab-
    handlung über die Kolonien beleuch-
    tet er die katastrophalen Folgen der
    Sklaverei, attackiert die „großen Ne-
    ger-Haciendas, in denen jeder Tropfen
    Zuckersaft Blut und Ächzen kostet“,
    und schreibt in einem privaten Brief:
    „Die Abschaffung des Feudalsystems,
    das geheiligte Recht der Gleichheit,
    wird die Menschen glücklicher und bes-
    ser machen.“ Nein, Humboldt sei
    durchaus nicht frei von Eurozentris-
    mus gewesen, sagte Sandra Rebok,
    aber er habe seine Position stets reflek-
    tiert und dem Test der Wirklichkeiten
    ausgesetzt, die er durchreiste – was
    könne man mehr verlangen? Sein Ziel
    sei Wissensproduktion gewesen, von
    der wir bis heute profitierten.
    Dieses Ziel ging aus dem Wissens-
    ideal der europäischen Aufklärung her-
    vor, wie der kolumbianische Historiker
    Mauricio Nieto Olarte freundlich erin-
    nerte, und es habe andere große Ge-
    lehrte gegeben, die weniger Glück
    hatten als Humboldt – bis heute. Nieto
    verwies damit auf den spanisch-kolum-
    bianischen Astronomen, Geographen,
    Botaniker und Freiheitskämpfer Fran-
    cisco José de Caldas y Tenorio (
    bis 1816), der Nueva Granada – das
    spätere Kolumbien – kartographierte,
    wegen Umsturzversuchs von den Spa-
    niern füsiliert wurde und außerhalb sei-
    nes Landes vergessen ist. Dieser dop-
    pelte, auch politische Blick auf die Wis-
    senschaftsgeschichte gab dem Abend
    seine besondere Spannung.
    Den Auftakt der Humboldt-Woche
    machte ein Konzert der Sing-Akade-
    mie zu Berlin und der Herren des Berli-
    ner Staats- und Domchors unter Lei-
    tung von Kai-Uwe Jirka im Berliner
    Dom. Felix Mendelssohns „Humboldt-
    Kantate“ für reinen Männerchor zu
    einem Libretto von Ludwig Rellstab ist
    eine hübsche historische Trouvaille
    und eine Illustration des Wissen-
    schaftsoptimismus der Goethe-Zeit.
    Bei der „Cantata Criolla“ von Antonio
    Estévez aus dem Jahr 1954, die in deut-
    scher Erstaufführung zu hören war, be-
    stachen die Präzision des gemischten
    Chors und die atemraubende Klang-
    schönheit des Tenors Andrés Moreno
    García. Die grell zuckenden Video-
    sequenzen dagegen störten das Publi-
    kum, das sich auf die Musik konzentrie-
    ren wollte, und auch die zwischen-
    durch von der Schauspielerin Marga-
    rita Breitkreiz gelesenen Texte waren
    überflüssig. Wenn es einen gibt, bei
    dem man sich pädagogische Kinderei-
    en sparen kann, dann Alexander von
    Humboldt. PAUL INGENDAAY


E


in sonniger Nachmittag auf dem
Weimarer Theaterplatz. Die Café-
terrassen sind gut besucht. Im
Schatten des Goethe- und Schiller-
denkmals steht der neoklassizistische Bau
des Deutschen Nationaltheaters. Die
Gruppe Novoflot und der Mädchenchor
der Sing-Akademie Berlin betreten in wei-
ßen Jacken den Asphalt, stellen sich im
Kreis auf und werfen Notenbücher auf den
Platz. Im geschäftigen Trubel der Klassi-
kerstadt erklingen Arien aus der Oper „Or-
feo“ von Monteverdi. Dazwischen immer
wieder diskursive Aussagen: „Wir pressen,
wie gesagt, alle Opernwerke mit aller
Kraft zusammen. Wie lang muss man für
diesen Big Bounce pressen?“ Das Stück
„Die Oper #1“ ist eine gelungene Persi-
flage auf die Opernwelt und stellt die Fra-
ge nach dem Sinn im Musiktheater. Dafür
seziert die Berliner Gruppierung die Mole-
küle der traditionellen Oper. Ein kulturkri-
tischer Start für das diesjährige Kunstfest
Weimar, dass mit Superlativen nur so um
sich wirft. Noch nie sei das traditionsrei-
che Sommerfestival, das seit 1990 stattfin-
det, so vielfältig, so partizipativ, so poli-
tisch und so groß gewesen. Bis zum 7. Sep-
tember läuft es diesmal noch.
Sein umfassendes Programm verdankt
das Kunstfest dem neuen Künstlerischen
Leiter Rolf Hemke, Jahrgang 1972, der aus
dem Ruhrgebiet und dem dortigen Mühl-
heimer Theater nach Weimar gewechselt
ist. Für fünf Jahre wird Hemke, der Jura
studiert, journalistisch gearbeitet hat und
ein Kenner der afrikanischen Theater-
und Musiklandschaft ist, die Geschicke
des Festivals leiten. Er hat bei der Pro-
grammplanung das Konzept „Kunstfest“
gänzlich hinterfragt und eine neue Defini-
tion aufgestellt, versucht aber der Traditi-
onslinie von Vorgängern wie Nike Wagner
und Christian Holtzhauer treu zu bleiben:
„Ich interpretiere Kunst im weiteren Sin-

ne. Musik, Theater, Malerei, Perfor-
mance.“ Lange Zeit sei das Kunstfest vom
Theater geprägt gewesen, was Hemke in
diesem Jahr mit neuen Programmschwer-
punkten geändert hat. „Es wird politisch
und musikalisch“, sagt er mit einem leich-
ten Schmunzeln.
Deshalb wurde auch der Auftakt zu
einer politischen Performance. Mit
„Reichstags Reenactment“ von Nurkan
Erpulat hat das Kunstfest in Kooperation
mit dem Deutschen Nationaltheater füh-
rende thüringische Landespolitiker zusam-
mengebracht, um sie Reden aus der Zeit
der Weimarer Nationalversammlung von
1919 lesen zu lassen. Ein experimentelles
Improvisationstheater, das den Geist von
Weimar und den demokratischen Auf-
bruch jener Tage wieder lebendig machen
soll. Mike Mohring von der CDU war eben-
so dabei wie Ministerpräsident Bodo Ra-
melow von der Linken oder die Grünen-
Politikerin Katrin Göring-Eckhardt. Eine
illustre Runde.
Erstaunlich an der diesjährigen Ausga-
be ist auch, dass Hemke und seine Mit-
arbeiter viele international bekannte
Künstler anwerben konnten wie zum Bei-
spiel die Regisseurin Katie Mitchell, die
sich am ersten Festivalwochenende in
ihrem Musiktheaterstück „Zauberland“
mit Fluchtschicksalen auseinandergesetzt
hat. Diese Betrachtung hat sie in einem
musikalisch-lyrischen Experiment ins Ver-
hältnis zu Robert Schumanns Lieder-
zyklus „Dichterliebe“ gesetzt. Keine einfa-
che Aufgabe sei das, denn das Budget des
Kunstfests ist seit seiner Gründung
äußerst begrenzt und beläuft sich in die-
sem Jahr auf lediglich 900 000 Euro. Doch
Hemke hat große Pläne: „Auch im nächs-
ten Jahr wird es so munter weitergehen
wie in diesem, mit ähnlich großem Pro-
gramm und einigen musikalischen und
dramaturgischen Highlights.“ So versucht
er momentan, eine Zusammenarbeit mit

der Klassik-Stiftung Weimar unter deren
neuer Direktorin Ulrike Lorenz zu verab-
reden und andere Institutionen in Thürin-
gen mit dem Kunstfest zu vernetzen.
Dennoch sieht auch Hemke Nachbesse-
rungsbedarf: „Wenn das Land Thüringen
weiterhin ein Festival mit dieser Qualität
haben möchte, muss auch in den nächsten
Jahren über die Finanzen geredet wer-
den.“ Hemkes Zukunftsziele sind hochge-
steckt. Eine „Dachmarke“ solle das Kunst-
fest werden, die künstlerisch ins gesamte
Land und international ausstrahlt. Für
2021 plant Hemke eine „Bundesgeistes-
schau“ in Anlehnung an die im selben
Jahr im benachbarten Erfurt stattfinden-
de Bundesgartenschau. Besonders das Fi-
nale des diesjährigen Kunstfests wird aber
schon jetzt viel Aufmerksamkeit erregen.
Am Schlusstag wird unter dem Titel „Ur-
aufführung eines Bildes“ ein Konzert ver-
anstaltet, das dem Dialog von klassischer
Musik und Kunst gewidmet ist. Bei dieser
Performance soll das schon 2014 entstan-
dene, aber noch nie öffentlich gezeigte Ge-
mälde „Immer noch unterwegs“ von
Georg Baselitz vorgestellt werden, das der
Künstler selbst als eines seiner „Hauptwer-
ke der jüngeren Vergangenheit“ bezeich-
net. Der Sänger Matthias Goerne wird
dazu Lieder von Hanns Eisler, Schostako-
witsch und Alban Berg vortragen.
Hemke will mit seiner Programmstrate-
gie eine klare Positionierung zur Ende
Oktober anstehenden Thüringer Landtags-
wahl betreiben: „Wir stehen für einen plu-
ralistischen und demokratischen Diskurs,
eine offene Gesellschaft, die diskriminie-
rungsfrei ist.“ Dabei hat er auch die histori-
schen Jubiläen im Blick, die Weimar in die-
sem Jahr prägen. Ob Bauhaus oder die
Konstituierung der Nationalversammlung
1919 – für Hemke spielt deren Würdigung
eine entscheidende Rolle fürs Gelingen
eines Kunstfests, das Impulse für das zeit-
genössische Kulturschaffen setzen will:

„Ohne historisches Bewusstsein ist in Wei-
mar kein Weiterkommen möglich.“
Auch deswegen ist Hemke eine Zusam-
menarbeit mit dem Zentrum für politische
Schönheit und dessen Gründer, dem Philo-
sophen und Aktivisten Philipp Ruch, ein-
gegangen. Am 30. August wird das Zen-
trum in Weimar einen Holocaust-Gedenk-
abend unter dem Titel „Das Riff der Ge-
schichte“ abhalten. Im Angesicht von Bu-
chenwald sollen der heutige Antisemitis-
mus und neue Formen des Judenhasses
diskutiert werden, mit Gästen wie Michel
Friedman, der Publizistin Lea Rosh und
der Migrationsforscherin Naika Foroutan.
Die aktuellen Entwicklungen in der
Weimarer Kommunalpolitik zeigen, dass
die sich durch das Programm ziehende of-
fene und liberale Haltung des Fests nichts
Selbstverständliches ist, denn dieser Som-
mer in Weimar kommt nicht ohne Störun-
gen aus. Die Vereinigung „Patrioten für
Deutschland“ hat sowohl für den Beginn
als auch zum Ende des Kunstfests De-
monstrationen angemeldet. Offiziell sol-
len die Wahlen im Oktober dabei im Mit-
telpunkt stehen, aber ähnlich häufig hat
diese Initiative selten in Weimar demons-
triert. Da die Kundgebungen auf dem
Theaterplatz stattfinden sollen, der zu-
gleich zentraler Veranstaltungsort des
Kunstfests ist, wäre auch das Festival mit
seinem temporären Meyer-Pavillon, dem
Kunstfest-Treffpunkt, betroffen.
Unabhängig von solchen Störversuchen
hat Hemke es geschafft, dem Kunstfest
gleich zu Beginn seiner künstlerischen Lei-
tung ein neues Gesicht zu geben. In keiner
anderen Zeit des Jahres ist Weimars
Kulturleben so kosmopolitisch, internatio-
nal und progressiv. Ganz nach Hemkes
Motto, das sein Antrieb als Kurator ist:
„Auch Goethe und Schiller waren zu ihrer
Zeit Avantgarde. Ich will das den Weima-
rern vor historischer Kulisse bewusstma-
chen.“ KEVIN HANSCHKE

„Klavier-Bayreuth“ oder „Paradies der
Tasten-Enthusiasten“ wird das Festival
„Raritäten der Klaviermusik“ in Husum
mittlerweile genannt. Seit über dreißig
Jahren pilgern Freaks und Fans der
schwarz-weißen Kunst in die graue Stadt
am Meer, um im dortigen Schloss Klän-
gen zu lauschen, die in den Konzerthallen
der Musikmetropolen so gut wie nie zu hö-
ren sind. In Husum ist alles anders: Hier
scheinen die Pianisten oft zwanzig statt
zehn Finger zu haben, um die überbor-
dend virtuosen Werke eines Charles Va-
lentin Alkan, Kaikhosru Shaopurji Sorab-
ji, Sigismund Thalberg zu poetisch spre-
chendem Leben zu erwecken. Ihnen liegt
ein Publikum zu Füßen, das bei allem En-
thusiasmus kritisch bleibt und seine Ken-
nerschaft in heftigen Diskussionen zum
Ausdruck bringen kann.
Hier klingt der Flügel nicht klirrend
hart und trennscharf, sondern samt-
weich, silbrig, singend. Denn auf ihm er-
tönt vornehmlich Musik aus dem „Golde-
nen Zeitalter“ des Klaviers von etwa 1850
bis 1930 – vorausgegangene und gegen-
wärtige Entwicklungen nicht ausgeschlos-
sen. Doch geht es um das genuin Pianisti-
sche, dessen sensible Zwischentöne in ei-
ner veränderten Ästhetik seit Ende des
Zweiten Weltkrieges, deren vergröberter
Wahrnehmung eher die perkussive Seite
des Instruments entspricht, ins Hintertref-
fen geraten sind, trotz massenhaft gespiel-
tem Chopin, Schubert, Beethoven und
Rachmaninow.

Vielleicht sind das Klang- und Interpre-
tationsideale einer vermeintlich besseren
Vergangenheit, doch was der Festival-Lei-
ter Peter Froundjian alljährlich aus dem
unerschöpflichen Fundus selten gespiel-
ter oder gänzlich vergessener Klaviermu-
sik zutage fördert, birgt Zukunftspotenti-
al genug. Es geht um nichts weniger, als
diese Vielfalt dem immer enger werden-
den Kanon von „Meisterwerken“ entge-
genzusetzen, die Veranstalter ihrem Publi-
kum glauben zumuten zu dürfen, um Re-
habilitation von Wertvollem, von Verrück-
tem, wunderbar Halbseidenem, abseitig
Genialem, das eine engstirnige Musikge-
schichtsschreibung, eine Geschmacks-
oder sonstige Diktatur verunglimpfte.
Die Wanderausstellung „Faszination
Klavierwelten“, von Froundjian mit dem
Musikwissenschaftler Wolfgang Rathert
konzipiert, bringt diese Facetten in Wort,
Bild und Ton zur Geltung, bis hin zu histo-
rischen Aufnahmen der großen alten Pia-
nisten. Sie wurde an den Musikhochschu-
len Rostock, Lübeck und Berlin gezeigt,
Studenten interessierten sich für die selte-
ne Literatur – die Idee eines Stipendiums
war geboren. Seit vergangenem Jahr dür-
fen fünf ausgewählte Studierende bei der
Husumer Festivalwoche hospitieren und
im Sommer darauf ein Programm ihrer
Wahl darbieten. Sie sorgten in einem Son-
derkonzert für nicht weniger Überra-
schungen als ihre erfahreneren, zum Teil
schon jahrzehntelang das Feld der „Rari-
täten“ beackernden Kollegen. Onute

Gražinyte konzentrierte sich überwie-
gend auf Musik ihrer baltischen Heimat,
die „Stygmantas“ (Fünf Miniaturen) des
Litauers Alvidas Remesa von 1990 führen
mit scharfgeschnittenen, kaleidoskopar-
tig gemischten Gesten in die Welt des Mi-
nimalismus; der „Gesang der Wellen“ des
Letten Jazeps Vitols hingegen, Schüler
und Nachfolger Rimskij-Korsakows am
Petersburger Konservatorium, entpuppt
sich als ausladendes, rauschendes Kon-
zertstück mit Vorgriffen auf den frühen
Skrjabin, dessen Stimmungsumschwün-
gen Gražinyte mit kontrastreicher Dyna-
mik und Agogik gerecht wird. Dunkle
Klangbrocken schleudert Mari Namera in
den Raum – die „Uralte japanische Tanz-
musik“ ihres Landsmannes Toshio Hoso-
kawa orientiert sich am Schlagwerk der al-
ten Hofmusik Gagaku.
Feinsinnig zeigt sich Kenji Miura mit
Noveletten von Francis Poulenc und einer
glitzernden Jazz-Transkription von Ste-
phen Hough, dessen ebenso eigensinni-
ges wie überwältigend differenziertes
Spiel vor Jahren das Festival bereicherte.
Mut beweist Elias Projahn mit Walter Gie-
sekings Transkription der Strauss-Lieder
„Ständchen“ und „Heimkehr“, schon im
Original halsbrecherisch und federleicht
zu nehmen das eine, tiefsinnig grübelnd
das andere. Ihnen stellt der Neunzehnjäh-
rige, der seit seiner Jugend Klavierabende
selbst gestaltet, zusätzlich Humanmedi-
zin in Rostock studiert, ausgerechnet den
bravourös gestalteten Höllenritt der Fan-

tasie und Fuge über „B-A-C-H“ von Franz
Liszt gegenüber. Hier entfaltet sich ein
künstlerisches Profil großer Ausdruckstie-
fe und Kontrastschärfe. Jorma Marggraf
steht dem mit Szymanowskis Sonate Nr. 3
im revolutionären Impetus von 1917 mit

subtilem Anschlag, dem Klangrausch im-
mer wieder trocken-pedalarme Passagen
entgegensetzend, kaum nach.
Diese jungen Leute erhalten in Husum
Chancen und Impulse, um neue Wege jen-
seits ausgetretener Pfade zu suchen. Wie
weit diese führen können, zeigt die aus
Singapur stammende Clarisse Teo mit der
mörderisch vollgriffigen Sonate Nr. 4
(1922/1954) von Anatol Alexandrow. Sie
spielt in der seit 2017 bestehenden Reihe

„Young Explorers“. Kotaro Fukuma
glänzt darauf mit überlegen gestaltender
Transparenz. Der junge Japaner über-
zeugt mit einem schlüssigen, in wunderba-
rem Farbreichtum gebotenen Programm,
in dem Theodor W. Adorno mit gänzlich
unideologischer Süße Georges Bizet hul-
digen kann und einer „Valsette“ von 1945
schmerzliche Dissonanzen à la Alban
Berg einzieht. Mit der Sonate Nr. 6 von
Miecysław Weinberg huldigt Fukuma ei-
nem Pianisten, der unter der nationalso-
zialistischen wie stalinistischen Diktatur
gleichermaßen zu leiden hatte und hier
seinem Freund Schostakowitsch gleich-
rangig zu sein scheint – seine Wiederent-
deckung spielt sich gleichwohl weiter in
Programmnischen ab. Wie schön, dass er
dem im Nazi-Getto Theresienstadt inhaf-
tierten und in Auschwitz ermordeten Vik-
tor Ullmann die Hand reichen kann, des-
sen „Variationen und Doppelfuge über
ein Thema von Schönberg“ Markus Be-
cker zwei Tage später mit aller gebotenen
Strenge und Freiheit, Leichtigkeit und
Wucht zum Klingen bringt.
Marco Rapetti mit einem rein russi-
schen Programm, Ronald Pöntinen mit
Skandinavischem, Joachim Draheims
Ausstellung zum 200. Geburtstag von Cla-
ra Schumann, eine Matinee mit seltenen,
in eine versunkene Klangkultur führen-
den alten Aufnahmen – die Reichhaltig-
keit dieses Festivals ist unüberbietbar.
Dass es jetzt die ganz Jungen fördert, ist
an der Zeit und wird den „Raritäten“ das
Überleben sichern. ISABEL HERZFELD

Weimars Sommer ist politisch


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Er hat sich


mitbedacht


Die Humboldt-Universität


feiert ihren Namensgeber


Nach süßen Träumen von Bizet darf hier Adorno Walzer tanzen


Die „Raritäten der Klaviermusik“ in Husum rebellieren mit Geist und Charme gegen die Verengung des Repertoires – und fördern die Jugend


Der neue Leiter Rolf Hemke Foto dpa

Auf dem Weg zur


Bundesgeistesschau:


Das jährliche Kunstfest


der Stadt hat einen


neuen Leiter, und der


verpasst dem Festival


ein neues Konzept –


durchaus mit Blick auf


die Landtagswahl.


Irgendwo hier sollten Mike Mohring von der CDU, Bodo Ramelow von der Linken und die Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckhardt auftauchen, denn sie alle machten beim „Reichstags Reenactment“ mit. Foto dpa
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