Ostdeutschlands unsichere Zukunft
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WOCHENENDE 30./31. AUGUST / 1. SEPTEMBER 2019, NR. 167^43
Alexander Demling, Martin Greive, Julian Olk
Dresden, Spremberg
D
ie Diskussion in der Dresdner Dreikö-
nigskirche plätschert schon seit an-
derthalb Stunden vor sich hin, als An-
dreas von Bismarck grundsätzlich
wird. „Wir stellen alles, was wir in
Sachsen wirtschaftlich erreicht haben, fundamental
auf den Prüfstand, wenn wir das nicht schaffen“,
sagt der Chemnitzer Unternehmer eindringlich. Alle
anderen Probleme, die bis dahin diskutiert wurden,
seien egal, wenn das eine nicht gelöst werde.
Mit dem „einen Problem“ meint Bismarck den
Fachkräftemangel in dem wirtschaftsstärksten ost-
deutschen Bundesland: Fast 300 000 der aktuell
zwei Millionen Arbeitskräfte werden der sächsi-
schen Wirtschaft im Jahr 2030 fehlen, so schätzt es
die Landesregierung in Dresden. Deren Chef, Mi-
nisterpräsident Michael Kretschmer (CDU), sitzt
links neben Bismarck und lauscht konzentriert. In
den anderen vier ostdeutschen Flächenländern
sieht es nicht viel besser aus. Ostdeutschland, noch
vor 15 Jahren eine Region der Massenarbeitslosig-
keit, droht sich im Rekordtempo in einen Land-
strich zu verwandeln, in dem ein Mangel an quali-
fizierten Arbeitskräften das Wachstum abwürgt.
Bismarck, ein Urururgroßneffe des ersten
Reichskanzlers, ist hochgewachsen, trägt einen
blauen Anzug und braunen Vollbart. Er hat vor der
Landtagswahl in Sachsen die Spitzenkandidaten al-
ler Parteien zu einer „Elefantenrunde“ eingeladen,
um die wirtschaftlichen Aussichten des Freistaats
zu diskutieren. Im Hauptberuf leitet Bismarck den
Strickmaschinenhersteller Terrot. Im Ehrenamt ist
der Unternehmer Vorsitzender der Initiative „Wirt-
schaft für ein weltoffenes Sachsen“.
In Sachen Weltoffenheit hat sich Sachsen in den
vergangenen Jahren, gelinde gesagt, keinen guten
Ruf erworben. Und nun könnte alles noch schlim-
mer werden, mit Folgen auch für die Wirtschaft.
Bei den Wahlen in Sachsen und Brandenburg am
kommenden Sonntag und in Thüringen eineinhalb
Monate später darf die AfD in allen drei Ländern
mit Ergebnissen um die 20 Prozent rechnen. In al-
len drei Landtagen könnte sie stärkste Kraft wer-
den. Und das, obwohl (oder gerade weil) die AfD-
Spitzenkandidaten Björn Höcke (Thüringen), An-
dreas Kalbitz (Brandenburg) und Jörg Urban
(Sachsen) selbst in ihrer Partei noch zum rechten
Rand zählen.
Die Konsequenzen der Wahl werden weit über
die Grenzen Sachsens und Brandenburg reichen.
Wenn die Hochrechnungen am Sonntag um 18 Uhr
keine gewaltigen Überraschungen bringen, werden
die Berliner Regierungsparteien CDU und SPD or-
dentlich gerupft – was die Machtbalance in beiden
Parteien gehörig stören könnte (siehe Seite 46).
Ein Rechtsruck gegen die Wirtschaft
Dass sie die Berliner Regierungsparteien abstrafen
können, dürfte für viele AfD-Wähler in Sachsen
und Brandenburg eine Genugtuung sein. Doch
Ökonomen befürchten, dass sich die Ostdeutschen
damit vor allem selbst bestrafen: Ein Erstarken
rechter Tendenzen sei ein wirtschaftlicher Schaden
auf mehreren Ebenen, sagt Michael Woywode, Di-
rektor des Instituts für Mittelstandsforschung an
der Universität Mannheim: „Zum einen werden die
Direktinvestitionen, insbesondere die aus dem Aus-
land, zurückgehen. Aber auch Kunden aus dem In-
und Ausland könnten abgeschreckt werden.“ Joa-
chim Ragnitz vom Ifo-Institut Dresden bekräftigt:
„Rechte Tendenzen schaden dem Standort, daran
gibt es keinen Zweifel.“
Ostdeutschland wird am Wahlsonntag einmal
mehr im Fokus des weltweiten Interesses stehen.
Wie zuletzt im September 2018, als ein mutmaß-
lich von einem Flüchtling begangener Mord in
Chemnitz gewalttätige Demonstrationen in der
Stadt auslöste, sich Rechtsextreme zu Hetzjagden
auf Ausländer verabredeten und die „New York
Times“ titelte: „Die Proteste in Chemnitz zeigen
die neue Stärke von Deutschlands Rechtsextre-
men“.
Ein Wahlerfolg der AfD könnte den Ruf der neu-
en Bundesländer als Heimat frustrierter Fremden-
hasser weiter zementieren. Und das gerade zu je-
nem Zeitpunkt, an dem der demografische Wandel
im Osten voll durchzuschlagen beginnt und es gilt,
Fachkräfte aus aller Welt anzulocken, um die vielen
in Rente gehenden Arbeitnehmer zu ersetzen.
Eigentlich schien der Aufschwung der vergange-
nen Jahre geeignet, den wirtschaftlichen Rückstand
der neuen Bundesländer zu verkleinern. Während
die Arbeitslosigkeit im Osten im Jahr 1999 noch bei
mehr als 17 Prozent lag, betrug sie im August 2019
nur noch 6,4 Prozent – kaum noch höher als die
4,8 Prozent in Westdeutschland. Auch die Löhne
stiegen im Osten zuletzt stärker als im Westen.
Zwar ist die Produktivität der ostdeutschen Wirt-
schaft noch rund 20 Prozent geringer als im Wes-
ten, doch von 2012 bis 2016 holte sie in jedem Jahr
auf. Allmählich schienen die neuen Bundesländer
die Schäden von 40 Jahren DDR-Sozialismus end-
lich hinter sich zu lassen.
Doch der ostdeutsche Aufschwung ist brüchig,
der Aufholprozess gegenüber Westdeutschland ver-
läuft quälend langsam und kann jederzeit zum Er-
liegen kommen – oder ist es schon.
Beispiel Produktivität: 2017 ist diese Kenngröße
für den wirtschaftlichen Fortschritt erstmals seit
2011 in den alten Bundesländern wieder stärker ge-
stiegen als in den neuen.
Beispiel Direktinvestitionen: Laut Bundesbank
sind die Projekte ausländischer Geldgeber 2014
und 2017 in Deutschland insgesamt um 15 Prozent
gestiegen, in Ostdeutschland nur um rund drei Pro-
zent. In Brandenburg sanken die ausländischen Di-
rektinvestitionen in dieser Zeit sogar.
Beispiel Arbeitslosigkeit: Ihr Rückgang beruht
weniger auf einem Einstellungsboom als auf einem
kontinuierlichen Rückgang des Arbeitsangebots.
Im Jahr 2000 wurden in den neuen Ländern noch
8 134 Millionen Arbeitsstunden geleistet. 2018 wa-
ren es nur noch 7 366 – ein Rückgang um rund
zehn Prozent. In den alten Bundesländern ist die
Zahl der Arbeitsstunden im selben Zeitraum um
mehr als zwölf Prozent gestiegen.
Immer mehr Ostdeutsche gehen in Rente, im-
mer weniger junge Menschen rücken auf dem Ar-
beitsmarkt nach. Nun rächt sich der demografi-
sche Aderlass, den die neuen Länder vor allem in
den 1990er-Jahren erdulden mussten. „Ost-
deutschland hat eine völlig andere Altersstruktur,
da im Laufe der vergangenen 20, 25 Jahre rund 3,5
Millionen vorwiegend jüngere Menschen weggezo-
gen sind“, sagt Renate Köcher, Chefin des Instituts
für Demoskopie Allensbach (siehe Interview auf
Seite 51). Man habe sich in der Vergangenheit „zu
wenig mit der Frage beschäftigt: Was bedeutet die
demografische Entwicklung Ostdeutschlands ei-
gentlich wirklich?“ Sie bedeutet vor allem, dass
den Unternehmen in den neuen Bundesländern in
rasendem Tempo die Arbeitskräfte ausgehen. Qua-
lifizierte Zuwanderer könnten in dieser Situation
helfen, doch „Ostdeutschland tut sich deutlich
schwerer mit dem Thema“, konstatiert Köcher.
Schwerer als der Westen der Republik, in dem vie-
le junge Zuwanderer, vor allem aus anderen EU-
Staaten, in den vergangenen Jahren geholfen ha-
ben, den demografischen Wandel abzufedern und
die Zahl der Arbeitnehmer sogar wachsen lassen.
Knapp 30 Jahre nach dem Fall der Mauer drängt
sich die Frage auf: Wie soll die Region ihre gewal-
tigen Herausforderungen der nächsten Jahre be-
wältigen, wenn in Landtagen eine rechtspopulisti-
sche bis rechtsextreme Partei den Ton angibt?
Oder anders gefragt: Ist der Osten noch zu retten?
Und, wenn ja, wie?
Ideen für einen „Masterplan Ost“, eine konzer-
tierte Anstrengung, um die wirtschaftliche Lücke
zwischen Ost- und Westdeutschland schneller zu
schließen, gab und gibt es einige. Etwa die Forde-
rung nach einem massiven, steuerfinanzierten In-
vestitionsprogramm für die neuen Länder. Oder
die Idee, den Osten der Republik in eine deregu-
lierte Sonderwirtschaftszone zu verwandeln. Be-
sonders provokant ist der Vorschlag des Instituts
für Wirtschaftsforschung Halle (IWH), die entvöl-
kerten ostdeutschen Regionen aufzugeben und al-
le politischen Anstrengungen nur noch auf die
städtischen Wachstumskerne zu konzentrieren.
Ähnliche Sprengkraft besitzt die Idee, große Zah-
len von ausländischen Zuwanderern gezielt nach
Ostdeutschland zu locken, um so den Fachkräfte-
mangel abzuwenden. Vergleichsweise harmlos
mutet schließlich der Plan an, gezielt Spitzenuni-
versitäten und Forschungsinstitute in den neuen
Ländern anzusiedeln, um so junge Leute in die Re-
gion zu locken und Innovationen zu fördern.
Das Handelsblatt hat in einer großen Analyse he-
rausgearbeitet, wer diese fünf verschiedenen Stra-
tegien vertritt, wie praxistauglich sie sind und wel-
che Umsetzungschancen sie besitzen (ab Seite 48).
„Wir müssen hochattraktiv sein“
Und welche Lösungen haben die voraussichtlichen
Wahlsieger von der AfD? Ein paar Stunden nach
der Diskussion in Dresden sitzt AfD-Spitzenkandi-
dat Jörg Urban in seinem Landtagsbüro, neben
dem die Elbe gemächlich vorbeifließt. Seit dem
Abgang von Ex-Parteichefin Frauke Petry führt der
Ist der Osten
noch zu retten?
Die Landtagswahlen in Sachsen,
Brandenburg und Thüringen
werden zum Referendum über die
Zukunft Ostdeutschlands –
die Region droht wirtschaftlich
zurückzufallen. Es fehlt vor allem an
qualifizierten Arbeitskräften.
Christoph Busse / VISUM
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TAUSEND
Arbeitskräfte werden
der sächsischen
Wirtschaft
2030 fehlen, wenn
das Land nicht
gegensteuert.
Quelle:
Wirtschaftsministerium
Sachsen
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