D
ie Hongkonger Protestbewegung
rüttelt stärker an den Festen der
Herrschaft der Chinesischen Kom-
munistischen Partei, als die Bilder
von Demonstrationen und Tränen-
gaseinsätzen vermuten lassen. Mao Tsetung hat
China befreit, Deng Xiaoping mit seiner 1978 be-
gonnenen Politik von Reform und Öffnung hat es
reich, der Generalsekretär der KP seit 2012, Prä-
sident Xi Jinping, hat es stark gemacht.
Das ist die Geschichte der Volksrepublik, wie
sie am kommenden 1. Oktober, dem 70. Jahrestag
der Gründung, mit Aufmärschen begeisterter
Massen und Vorführung der chinesischen Waf-
fenarsenale auf dem Platz des Himmlischen Frie-
dens in Peking gefeiert werden wird. Auf diesen
- Oktober – und zugleich auf den mächtigsten
Führer Chinas seit Mao – darf kein Schatten fal-
len. Hier liegt ein Schlüssel zum Verständnis des-
sen, was derzeit in Hongkong geschieht. Er er-
schließt auch, weshalb Europa nicht zögern soll-
te, seine Interessen deutlich zu machen.
Für die Protestbewegung steht im Vorder-
grund der zunehmend ausgreifende Einfluss Chi-
nas in der ehemaligen britischen Kronkolonie.
Deng Xiaoping hatte vor der Rückgabe Hong-
kongs an China im Jahr 1997 im neu verfassten
Grundgesetz das Prinzip „ein Land, zwei Syste-
me“ mit der Beibehaltung des Rechtssystems
und der liberalen bürgerlichen Gesellschaft (und
für 2017 sogar die Einführung freier Wahlen, die
es unter der Kolonialmacht Großbritannien nie
gegeben hatte) für fünfzig Jahre garantiert. Da-
von ist jetzt, nach nur zwei Jahrzehnten, keine
Rede mehr.
Der systemfremde Stachel
Jetzt offenbart sich der damals angelegte Wider-
spruch: China war sich sicher, Hongkong werde
bald mit der Volksrepublik verschmelzen, in
Hongkong und Großbritannien glaubte man,
dass während der fünfzig Jahre politische Refor-
men China verändern würden. So sitzen wegen
der fortbestehenden Rechtssicherheit zahlreiche
der in der Volksrepublik tätigen westlichen Un-
ternehmen mit ihren Zentralen noch immer lie-
ber in Hongkong als auf dem chinesischen Fest-
land, wo sie dem willkürlichen Zugriff der Partei
ausgesetzt wären.
Geliebt wird dieser systemfremde Stachel im
Fleisch in Peking aber keineswegs. Schritt für
Schritt beschneidet die kommunistische Füh-
rung in Peking daher seit Jahren die noch beste-
henden Freiheiten in Hongkong, sosehr sie auch
zum Wirtschaftswachstum Chinas beitragen. Ihr
Griff wird dabei zunehmend rabiater – bis hin
zur Entführung unliebsamer Hongkong-Chine-
sen, die in der Volksrepublik vor Gericht gestellt
werden. Der Versuch, mit der von den Pekinger
Vorgaben abhängigen Regierung Hongkongs ein
Gesetz zur Auslieferung von Hongkonger Bür-
gern an Peking zu beschließen, brachte das Fass
des Widerstands vor mehr als zwei Monaten
zum Überlaufen.
Für die Jugend Hongkongs werden die Zu-
kunftsaussichten nicht nur politisch düsterer.
Der Zustrom von Festlandschinesen macht auch
den Arbeits- wie den Wohnungsmarkt Hong-
kongs immer enger: Die Aussicht auf sichere und
ausreichend gut bezahlte Jobs oder auf Wohn-
raum schwindet, und je mehr Hongkong den Pe-
kinger Versuchen ausgesetzt ist, die Wirtschaft
nach Schanghai oder ins angrenzende Shenzhen
zu ziehen, desto trister sieht die Zukunft aus
Sicht der jungen Leute aus.
Mit ihren Forderungen nach Rücknahme des
Vorhabens eines Auslieferungsgesetzes und vor
allem nach der Einführung der versprochenen
demokratischen Wahlen beißt die Protestbewe-
gung in Peking jedoch auf Granit. Auch kann
sich die Führung der Kommunistischen Partei
in Peking zu den 70-Jahr-Feiern den monatelan-
gen Gesichtsverlust durch die ihr auf der Nase
herumtanzenden jungen Hongkonger nicht län-
ger erlauben. Es ist zudem eine Führung, die
seit 70 Jahren gewohnt ist, noch jeden Wider-
stand ihrer Bevölkerung zu brechen, und zwar
auch mit durchaus blutiger Gewalt – in diesem
Jahr jährte sich die gewaltsame Niederschlagung
der Proteste auf dem Platz des Himmlischen
Friedens am 4. Juni 1989 zum 30. Mal (und die-
ses Tags wird gerade in Hongkong noch immer
jedes Jahr gedacht).
Und noch ein Problem hat die Führung in Pe-
king: Gewohnt, sich im eigenen Land jederzeit
durchsetzen zu können, fehlt ihr das Verständ-
nis dafür, wie andere Gesellschaften auf der Welt
„ticken“. Die jungen Hongkonger, im westlichen
freien Denk- und Wertesystem aufgewachsen,
sind für die Volksrepublik solch eine fremde Ge-
sellschaft, selbst wenn Hongkong Teil des „einen
Landes“ China ist. Dass die mit modernsten digi-
talen Mitteln geführte chinesische Kampagne in
den sozialen Medien – bis hin zur wohlorgani-
sierten Verbreitung unzähliger gefälschter Nach-
richten (Fake News) – in Hongkong bislang keine
feststellbare Resonanz findet, veranschaulicht
die Fremdheit dieser Gesellschaft für die Pekin-
ger Strategen.
Wie also mit dem Problem umgehen? Peking
spricht immer wieder von einer gewaltsamen
Lösung des durch die „Kakerlaken“ in Hongkong
hervorgerufenen Problems. Dafür spricht zu-
sätzlich zur Chance, Hongkong dauerhaft gefü-
gig zu machen, noch ein weiter reichender As-
pekt: China würde damit global die Muskeln der
neuen Weltmacht vorführen. Die Niederschla-
gung der Protestbewegung würde – anders als
am 4. Juni 1989 – mit der Selbstsicherheit des
machtbewussten Präsidenten Xi Jinping gesche-
hen. Sie wäre ein Signal an das noch immer an
seiner Freiheit festhaltende, widerborstige Tai-
wan, an all jene Länder in der Region, die noch
Zweifel am Dominanzwillen Chinas haben, und
nicht zuletzt an die Vereinigten Staaten, die
noch immer beanspruchen, die Sicherheit Ost-
asiens zu garantieren.
Gefahr einer gewaltsamen Lösung
Und wer würde schon für Hongkong eintreten?
Militärisch gewiss keiner, weder die USA noch
die alte Kolonialmacht Großbritannien, und an-
gesichts der globalen Verflechtung der Volkswirt-
schaft Chinas wäre wohl auch kaum mit Wirt-
schaftssanktionen zu rechnen: Hongkong ist
nicht die Krim, China ist nicht Russland.
Allerdings, je länger Peking zögert, desto grö-
ßer das Risiko, dass Straßenkämpfe in der Sie-
beneinhalb-Millionen-Stadt gegen die an der
Grenze bereits wartenden und im chinesischen
Fernsehen regelmäßig vorgeführten Truppen
sich über den 1. Oktober hinziehen würden;
das aber käme dann fast schon einer Niederla-
ge der KP gleich.
Es gibt noch andere Optionen. So die des Ein-
satzes begrenzter Gewalt, das heißt der Verstär-
kung der 30 000 Mann starken Hongkonger Po-
lizei durch Polizisten aus den chinesischen
Nachbarstädten. Hier wäre das Eingreifen nicht
ganz so offenkundig, ein Fehlschlag und seine
wirtschaftlichen Auswirkungen könnten der Ver-
antwortung der Hongkonger Regierung zuge-
schoben werden. Bereits jetzt tauchen hier und
da in Hongkong Polizeikräfte aus der Volksrepu-
blik auf.
Noch ist ein Kompromiss möglich
Zweitens ist ein Kompromiss im Bereich des
Möglichen. Da ist vieles vorstellbar. Die Hong-
konger Regierung unter Carrie Lam könnte etwa
das Auslieferungsgesetz zurücknehmen und die
Vorbereitung eines Beschlusses über freie Wah-
len zusagen. Die kommunistische Führung in Pe-
king könnte die auf beiden Seiten ungeliebte
Lam zum Sündenbock machen, sie dann zum
Rücktritt zwingen, den Kompromiss aber vorläu-
fig unangetastet lassen. Hierfür spricht, dass
Lam derzeit in auffälliger Weise von Kritik durch
die Volksrepublik verschont bleibt: Man braucht
sie vielleicht noch.
Vielleicht aber hofft Peking einfach nur, dass
die Proteste sich rechtzeitig totlaufen. Das aller-
dings ist weniger wahrscheinlich, je näher jener
ominöse 1. Oktober rückt. Damit wird denn auch
die Hoffnung westlicher Staaten aussichtsloser.
Es ist die gleiche wie die Pekings, denn die Jahr-
zehnte immer engerer Wirtschaftsbeziehungen
sind eine Erfolgsgeschichte, von der beide Sei-
ten profitieren. Allein Deutschlands Handelsaus-
tausch mit China (einschließlich Hongkongs) hat
seit Jahren etwa den gleichen Umfang wie der
mit den USA.
Jede Erschütterung würde direkt auf die in
China tätigen Unternehmen, auf die Exportwirt-
schaft des Westens, auf die Preise von Importen
aus China durchschlagen: Die jüngsten Reaktio-
nen der Aktienmärkte auf die Ankündigung neu-
er Zollerhöhungen für chinesische Waren vor
dem G7-Gipfel durch den amerikanischen Präsi-
denten Donald Trump zeigten, wie empfindlich
die Wirtschaft weltweit auf eine mögliche Insta-
bilität in Ostasien reagiert. Ein Durchgreifen Pe-
kings in Hongkong wäre weit mehr als nur etwas
Instabilität, und es träfe in eklatanter Weise die
Interessen Europas.
Pekings Mahnung an die G7, sich nicht in die
„inneren Angelegenheiten“ Chinas einzumi-
schen, ignoriert diese Interessenlage der Euro-
päer. Die bisherigen Appelle westlicher Haupt-
städte, beide Seiten mögen sich mäßigen, sind
vernünftig, doch angemessener wären wohl
deutliche Worte über die Notwendigkeit eines
Kompromisses mit der Protestbewegung. Da
auch Peking von reibungslosen Wirtschaftsbezie-
hungen mit Europa abhängt, wären sie vielleicht
genau das, was die Balance der Meinungsbil-
dung in Peking in die richtige Richtung bewegen
könnte. Eine Aufgabe für die neue EU-Kommissi-
onspräsidentin Ursula von der Leyen, die als
deutsche Verteidigungsministerin bereits ver-
traut genug mit den Risiken geworden ist, die in
Ostasien warten.
Chinas Dilemma
Der Westen sollte in Hongkong Flagge
zeigen, fordert Volker Stanzel.
Auf den 70.
Jahrestag der
Gründung
am 1. Oktober
darf kein
Schatten
fallen. Hier
liegt ein
Schlüssel zum
Verständnis
dessen, was
derzeit in
Hongkong
geschieht.
Der Autor war Botschafter in China und Japan
und ist heute Senior Distinguished Fellow bei
der Stiftung Wissenschaft und Politik.
imago/photothek [M]
Gastkommentar
(^64) WOCHENENDE 30./31. AUGUST / 1. SEPTEMBER 2019, NR. 167
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