Der Tagesspiegel - 30.08.2019

(Nancy Kaufman) #1

Geologie hieß damals noch Geognosie,
und es tobte ein erbitterter Streit zwi-
schen Vulkanisten und Neptunisten über
die Entstehung der Welt. Warum sind
Tiere ausgestorben – oder bloß in ferne
Gegenden ausgewandert? Woher kamen
die Findlinge? Die einen glaubten, dass
dieMeereden PlanetenErde geformt hät-
ten, die anderen sahen die heißen Kräfte
des Erdinneren am Werk, glaubten an die
Gestaltungsmacht der Vulkane.
Johann Wolfgang von Goethe
(1749–1832) blieb sein Leben lang Nep-
tunist, das Eruptive und Explosive als
Weltordnungsprinzip war ihm zuwider.
Alexander von Humboldt (1769–1859)
blieb lange ein Neptun-Jünger, um in den
1820er Jahren zur Vulkan-Partei überzu-
treten. Damit stand er wissenschaftlich
auf der richtigen Seite, wobei auch die
neptunischen Einflüsse auf die Geologie
nicht zu leugnen sind.
Es gibt kaum ein Wissensgebiet, für
das sich Goethe nicht interessiert hätte.
Er hörte Anatomie in Jena, trieb botani-
sche Studien und untersuchte unter dem
Mikroskop im Heuaufguss „Infusions-
tiere“. DerDichterzerlegte und legte sich
die Natur zurecht, er gilt als Mit-Entde-
cker der Eiszeiten und „Kältezeiten“ und
entdeckte beimMenschenden Zwischen-
kieferknochen.
Da ist es erstaunlich, dass jetzt erst eine
Ausstellung sich „Goethe und die Natur-
wissenschaften um 1800“ vornimmt.
„Abenteuer der Vernunft“ lautet der von


Immanuel Kant geliehene Titel, und die
Weltpremiere findet im modernen Schil-
ler-Museum statt. Im alten Hause Goethe
um die Ecke wäre dafür kaum Platz.
Schließlich war der Geheimrat und For-
scher ein leidenschaftlicher Sammler. Gut
23000 Mineralien, Fossilien, Tier- und
Pflanzenpräparate trug er zusammen, ließ
er sich aus aller Welt nach Weimar schi-
cken. Aus diesem Riesenfundus bedient
sich die Schau, ergänzt um Leihgaben wie
Johann Christian Clausen Dahls Bild vom
Vesuvausbruch aus
dem Frankfurter Stä-
del aus dem Jahr
1826.
Goethe hat den
Vulkan bei Neapel
bestiegen. Es war
seine einzige grö-
ßere Reise in die
weite Welt. Die Her-
renGelehrtenerklär-
ten sie vom Schreib-
tisch aus, ohne ei-
gene Anschauung fremder Länder und
Kulturen, was Kant oder Hegel nicht von
unglaublichen rassistischen Ideen ab-
hielt. Alexander von Humboldt war einer
der wenigen, die das gebildete Stubenho-
ckertum ablehnten. Er ging hinaus in die
Welt, riskierte auf Reisen sein Leben.
Humboldt und Goethe waren Antipoden,
sie achteten einander, wobei die Höflich-
keiten immer mehr abkühlten.
Weimar ist immer auch eine Weltreise,
ein Lehrpfad. Die Ausstellung zeigt die
Humboldt-Ikone schlechthin, das be-

rühmte Gipfelpanorama „Zur Geogra-
phie der Pflanzen in den Tropen-Län-
dern“ von 1807. Das Original, selten und
herrlich anzusehen, stammt aus Goethes
Bibliothek. Im gleichen Jahr zeichnete
der Dichter, von Humboldt inspiriert, ein
kleineres Blatt mit „Höhen der alten und
neuen Welt“. Mit Strichmännchen: Unter
dem Gipfel des Chimborazo, auf 5760
Metern, steht ein Humboldtchen, auf
demMont Blancwinktder Höhenbezwin-
gerSaussure. DazwischenamHimmel im
Ballon der Forscher Gay-Lussac. Mit ihm
wiederum war Humboldt zum Vesuv hi-
naufgestiegen; Susan Sontag hat über die
Lavasucht des revolutionär gestimmten
ausgehenden 18. Jahrhunderts einen di-
cken Roman geschrieben, „Der Liebha-
ber des Vulkans“.
Man kannte einander gut in jenen Jah-
ren, stritt gern – Wissenschaft funktio-
nierteauchals Gesellschaftsspiel und Pas-
sion der Reichen und Berühmten. Dabei
verschwammen noch die Grenzen zwi-
schen Spielerei und professioneller For-
schungsarbeit. Die Disziplinen waren
nicht abgesteckt, sie entstanden über-
haupt erst, wie man sie heute kennt, ob
Biologie oder Paläontologie. Ein Laie
konnteso gut wieeinprofessioneller Wis-
senschaftler Großes leisten. Goethe hatte
Selbstbewusstsein genug, Isaac Newtons
optische Erkenntnisse anzugreifen.
Was den Dichter und Sammler da um-
trieb, wirkt heute wie Grundlagenfor-
schung. Und der Erfolg der Naturbücher
und des nature writing , der jetzt schon
eine Weile anhält, erinnert an die Goe-

the-Zeit, in der die Wissenschaft eine im-
mer schnellere Entwicklung nahm.
Im Schiller-Museum, das in dieser
Schau zum Goethe-Gehäuse wird, mit
dem ständigen Gast Alexander von Hum-
boldt, beginnt der Rundgang vor Steinen
und versteinerten Tierchen. Und weiter
zum Grünzeug und den Klassifizierungs-
systemen. 1790 veröffentlicht Goethe
seine erste Schrift zu einem naturwissen-
schaftlichen Thema, „Versuch die Meta-
morphose der Pflanze zu erklären“. An
der „Farbenlehre“, die 1810 mit 1400
Druckseiten erscheint, arbeitet Goethe
zwanzig Jahre. Hier können die Ausstel-
lungsbesucher selbst ein wenig experi-
mentieren, mitPrismenund anderemGe-
rät.Das wohl kostbarste Objekt ist Joseph
Fraunhofers „Sonnenspektrum mit Ab-
sorptionslinie“, entstanden 1823. Nur
noch drei Exemplare gibt es davon welt-
weit. Das Spektrum ist schon ästhetisch
eine Sensation. Für die Naturwissen-
schaft stellt es einen revolutionären
Sprung in der Kosmologie dar.
Viel Charme versprühen die alten In-
strumente. Goethe besaß eine„Scheiben-
Elektrisiermaschine“ aus Holz, Messing
undGlasoderaucheineBatterieLeidener
Flaschen. Stromerzeugung und -speiche-
rung stellten damals noch große Pro-
bleme dar. Aber man konnte die Phäno-
menespektakulärdemonstrieren:Wissen-
schaftum1800 war ungemein populär.

— Die Ausstellung läuft bis 5. Januar 2020,
der Katalog kostet 29,90 Euro. Info: klas-
sik-stiftung.de

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Reichlich düster ist die Stimmung in Be-
zug auf die allgemeine Weltlage gerade,
und das Atonal-Festival im Kraftwerk
spiegelt sie mit äußerster Konsequenz.
Musik, Performance und Kunst mit apo-
kalyptischer Einfärbung: Damit wird das
ehemalige Heizkraftwerk Mitte mit den
im Gebäudekomplex untergebrachten
Clubs Tresor, Globus und OHM wieder
für fünf Tage zum audiovisuellen Erleb-
nispark für Tausende, größtenteils
schwarz gekleidete Leute aus aller Welt,
die sich gerne melodiefreie Musik mit
grenzwertigen Frequenzen anhören.
Neben Konzerten und DJ-Sets an der
Schnittstelle von Geräuschmusik und
Clubkultur werden dabei auch wieder
Kunstobjekte, Installationen und Filme
präsentiert. Allen voran Nervous System
2020, eine spektakuläre Installationsper-
formance aus Tanz, Sound und holografi-
schenBildern vonGuillaumeMarie,Mar-
cel Weber and J.G. Biberkopf, mit drei
Figurenin großenSchaukästen,derenBe-
wegungsabläufe weniger Tanz als abs-
trakte Bewegungsanalysen sind. Ein wei-
terer Höhepunkt wird am Samstag die
Live-Performance von Cyprien Gaillard
sein, der eine Adaption seines Beitrags
„Ocean IIOcean“fürdie diesjährige Bien-
nale in Venedig zeigen wird.
Am Mittwoch begrüßten einen bei der
Eröffnung inderEingangshalle diePolyu-
rethan-Skulpturen von Folkert de Jong,
diewestliche Kolonialherren als Totemfi-
guren zeigen und eine Tiki-Bar-Atmo-
sphäre in die Industriekathedrale brin-
gen, was wie ein verspäteter Kommentar
zu Throbbing Gristles Begeisterung für
den tropisch eingefärbten World Jazz des
Pianisten Martin Denny wirkt. Schön
skurril ist auch der Geisterchor von Ho
Tzu Nyens Multimedia-Installation „No
Man II“, ein auf Spiegelglas projizierter
Film, der den Zuschauer mit einer wilden
Ansammlung von singendenAnime-Figu-
ren in eine Welt mitnimmt, die im digita-
len Wahn das eigene Ich aus den Augen
verliert.
Dagegen ist die von Cécile Beau und
Emma Loriaut bereitgestellte Installation
„Reversion“ fast schon meditativ. In drei
Vitrinen werden auf schwebenden Felsen
Silberkristalle gezüchtet, deren Wachs-
tum über die Dauer des Festivals zu be-
wundern ist. Das Gegenstück zu dieser
Entschleunigung ist „The Retrospective
View of the Pathway“ von Roger Hiorns –
ein kinetisches Kunstwerk, bei dem drei
Figuren grotesk zerlegt an der Wand hän-
gen und in unregelmäßigen Abständen
auf den Boden knallen. Als Zuschauer
sucht man unwillkürlich nach dem Sinn
oder der Botschaft. Geht es um Macht-
kämpfe? Entfremdung? Weltuntergang?
Auch auf das Musikprogramm muss
man sich seinen eigenen Reim machen.
Zunächst umwölkt Annie Gårlid alias
UCC Harlo das Publikum mit einer Mix-
tur aus Soprangesang und Schüttel-Elek-
tronik, bevor Pavel Milyakov einen mit
nachdenklichem Musique-Concrète-Ge-
polter beglückt und dann einer auf die
Bühne kommt, mit dem hier wohl keiner
gerechnet hat: Mark Lanegan. Vor 35 Jah-
ren begann er seine Karriere als Front-
mann der Grunge-Pioniere Screaming
Trees und driftete als Solokünstler im-

mer wieder in die besinnliche Singer-
Songwriter-Ecke ab. Immer noch
schwingt ein Hauch von Jüngstem Ge-
richtdurch denRaum,wennder Ex-Kum-
pel von Kurt Cobain mit seinem Bari-
ton-Organsogar die biblische Gravitas ei-
nes Johnny Cash in den Schatten stellt.
Passenderweise nennt er sich nun Dark
Mark und hat sich für das neueste Projekt
mitdem Dark-Elektro-TüftlerAlessioNa-
talizia alias Not Waving zusammengetan.
Statt krachender Rockgitarren dominie-
ren schleppende Downtempo-Beats und
atmosphärische Elektronik-Klangflä-
chen, die sich ins Bewusstsein schlei-
chen, während Lanegan den Prediger am
Straßenrand simuliert und zum nihilisti-
schen Leidensmann wird.
Und es wird noch schattiger. Liz Harris
präsentiert sich mit ihrem neuen Projekt
Nivhek als Performerin am Rande der
Popmusik, deren introspektive Wunder-
lichkeit eine fantastische Stunde lang den
Moment festhält, in dem das Subjekt ge-
gen seine Auflösung kämpft und gleich-
zeitig sein Verschmelzen mit der Musik
zelebriert. Dabei schwebt eine verhäng-
nisvolle Ahnung
über den schummri-
gen Klängen, unter
deren Oberfläche
permanent kleine
Wirbel aufsteigen.
Hierein schimmern-
der Loop, dort eine
verschwommeneGi-
tarrenfigur,viel äthe-
rischer Gesang und
noch mehr Klavier-
geklimper, dazwi-
schen ein kurzer Lärmausbruch und da-
runter ein zumeist verschlurftes Grund-
rauschen. Es ist nicht allein das Volumen
ihrer mitHallfilterundPedalecho insUn-
endliche ausgreifenden Musik, sondern
ihre spirituelle Entrückung und Dichte,
die einen packt.
Ganz anders, aber kaum weniger ver-
träumt fällt der Auftritt des australischen
Duos HTRK (Haterock) im Erdgeschoss
aus. Um Mitternacht gibt Sängerin Jon-
nine Standish die unterkühlte Domina,
die mit ihrem Nuschelgesang schlaftrun-
ken durch die Melodien taumelt, wäh-
rend Gitarrist Nigel Yang die traurigsten
Schauer-Riffs im Echo versenkt und plu-
ckernde Elektrobeats den Stücken rhyth-
mischenHalt geben.KeineProjektionsflä-
che für Befindlichkeiten, sondern
Dream-Pop-Psychedelia für den Dämmer
kurz vor dem Aufwachen.
Irgendwann sehnt man sich dann nach
mehr Adrenalin und bekommt auch
gleich fette Bässe geliefert, als der briti-
sche Club-Veteran dBridge alias Darren
White sein Drum’n’Bass-Handwerk mit
kernigen Dub-Salven vermengt, wäh-
rend im OHM der blutjunge DJ Metrist
einen oberflotten Mix aus Jungle-Beats
und zappeligen UK-Bass-Techno-Sounds
abspult. Was könnte jetzt schöner sein
als diese plötzliche Wachheit, in freudi-
ger Erwartung dessen, was in den nächs-
ten Tagen noch kommt? Muss ja nicht al-
les finster sein. Volker Lüke

— Kraftwerk, Köpenicker Str. 70,
bis 1. September, Info: berlin-atonal.com

Feuer und Erdgeheimnis. Den Vesuvausbruch von 1820 malte Dahl sechs Jahre danach – Zeugnis allgemeiner Vulkanbegeisterung damals. Foto: Städel Museum/Artothek


Der Dichter
war ein

großer
Sammler

auf vielen
Gebieten

Reise in eine
Welt, der im

digitalen
Wahn das Ich

aus dem
Blick gerät

Von Rüdiger Schaper

Steine, Pflanzen, Lichtgestalten


„Abenteuer der Vernunft“: Weimar zeigt Goethe als Naturwissenschaftler in vulkanischen Zeiten


Heilige der letzten Tage


Gruftig geht die Welt zugrunde: das Festival


Berlin Atonal mit verstörender Kunst und Klängen


20 DER TAGESSPIEGEL KULTUR NR. 23 930 / FREITAG, 30. AUGUST 2019


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