er Spiegel - 10. August 2019

(John Hannent) #1

Musik


Gespaltene Seele


 Die Sehnsucht der Deutschen nach
fernen Orten ist groß, das Vertrauen
in diese fremden Orte eher gering. Die
öffentlich-rechtlichen Anstalten hierzu-
lande haben aus dem scheinbar unlös -
baren Dilemma ein Sendeformat entwi-
ckelt, mit dem sie so effizient wie elegant
die sentimentale Grundversorgung des
Publikums gewährleisten können: das
des Auslandskrimis mit inländischen
Ermittlerdarstellern. Zum Personal dieses
Parallelkosmos in der ARD zählt Jürgen
Tarrach, 58, der seit vergangenem Jahr
im »Lissabon-Krimi« die Rolle des
Rechtsanwalts Eduardo Silva innehat.
Tarrachs Silva-Figur hat seine Juristen -
karriere in den Sand gesetzt und residiert
in einem heruntergekommenen Hotel.
Malerische Abgerissenheit gehört zu den
Lieblingsmotiven der deutschen Portugal-
fans. So gesehen bedient Tarrach mit
seiner Krimirolle die Folklorebedürfnisse
des Publikums – die er nun mit seinem


Musikalbum »Zum Glück traurig«
allerdings aufbricht. Für die zwölf
Stücke orientiert er sich am Fado, also
an jener Art von Schmerzenspower -
ballade portugiesischer Herkunft, mit
der die Lokale in Lissabons Altstadt-
vierteln Bairro Alto oder Alfama
Touristen anzulocken versuchen.
Den klassischen Fadista darf man
sich als einen Menschen vorstellen,
der den Sternenhimmel über dem
Tejo ansingt. Gemessen an der Stimm-
kraft seiner portugie sischen Fado -
vorbilder, ist Tarrach ein Sänger von
bescheidenem Talent. Wo die anderen
raumfüllend barmen, haspelt er sich
eher auf ambitioniert gedrechselten
Reimen durch die Ambivalenzen seines
deutschen Gefühlshaushalts. Tarrach
nennt sein Album den Versuch, »in die
portugiesische Seele einzutauchen«.
In Wirklichkeit ist es der anrührende
Selbstversuch, in die zerrissene Seele
eines leidenschaftlichen Portugiesen -
darstellers einzutauchen. Lissabon ist
fern auf diesem Album. CBU

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Literatur


Jenseits der Bücher


 In der Sprache der Finanzwelt warnt
das Akronym T. B. D., »There Be Dra-
gons«, vor Risiken, die nicht absehbar
sind; auf alten Landkarten bezeichnet
die Phrase Hic sunt leones, »Hier sind
Löwen«, ein unerschlos-
senes Gebiet. Mit
beidem bekommt die
Icherzählerin dieses
Romans (Katerina
Poladjan: »Hier sind
Löwen«. S. Fischer;
288 Seiten; 22 Euro) zu
tun, als sie aus Deutsch-
land nach Armenien


reist, um sich dort in der Technik des
Bücherrestaurierens fortzubilden. Jenseits
der Bibliothek, in der ein Geruch von
»Erde, Ei und Pilz, Holzstaub und altem
Tier« die Lufthoheit beansprucht, ist der
Boden fruchtbar, aber dünn besiedelt.
Viele Armenier leben in der Diaspora.
Und fremd sind der Reisenden auch die
romantischen Gefühle, denen sie jählings
ausgeliefert ist. Poladjan, 48, in Moskau
geboren, verschränkt das Thema des
Völkermords an den Armeniern während
des Ersten Weltkriegs mit der Suche ihrer
Protagonistin nach Bindung; sie macht
das kunstvoll, doch auch ziemlich äthe-
risch – die Vermeidung von Pathos prägt
nicht nur die Heldin, sondern auch den
Stil ihrer Autorin. ES

Nils MinkmarZur Zeit

Merkels Lektüre


Es kommt nicht oft vor, dass
Angela Merkel mit einem
Buch in der Hand fotogra-
fiert wird. Auch darum
macht das Foto aus ihrem
Urlaub so stutzig: Was liest
sie denn da? Es ist die literatur-
wissenschaftliche Studie »Der Tyrann:
Shakespeares Machtkunde für das


  1. Jahrhundert« von Stephen Green-
    blatt. Darin untersucht er, wie sich
    Shakespeare mit Machtmissbrauch,
    unfähigen Herrschern und monar-
    chischer Grausamkeit auseinandersetzt.
    In den Stücken von Shakespeare lesen
    wir keine bloß verurteilende, sondern
    eine nuancierte, nahezu liebevolle Be -
    schäftigung mit tyrannischen Königen.
    Sie seien oft die interessantesten Figuren,
    von denen man den Blick nicht abwen-
    den könne, schreibt Greenblatt. In sei-
    nem Globe Theatre habe man Herrscher
    darstellen können, die die abscheulichs-
    ten Dinge tun, doch Shakespeare sei nie
    festgenommen worden. Offenbar habe
    er ein besonderes Gespür für Macht
    gehabt – und für jene, die sie ausüben.
    Das Buch basiert auf einem Artikel,
    den Greenblatt einen Monat vor der
    Präsidentschaftswahl 2016 für die
    »New York Times« verfasste. Dort
    beschreibt er, ohne den Kandidaten der
    Republikaner und heutigen Präsidenten
    nur einmal zu nennen, die Wege, die in
    der Welt von Shakespeare zur Tyrannei
    führen. Die sind nämlich überraschend
    breit und frei. Obwohl etwa im Drama
    »Richard III.« der König eine abstoßen-
    de und offensichtlich inkompetente Per-
    son ist, stellt sich niemand seinem Auf-
    stieg in den Weg. Was sind die Gründe
    für das Nichtstun? Da sind jene, die
    glauben, es werde schon alles geregelt
    weiterlaufen. Sie blenden die Gefahr
    aus. Dann gibt es solche, die nicht
    erkennen möchten, wie gefährlich
    Richard wirklich ist, sie vergessen seine
    Missetaten und normalisieren, was
    nicht normal wird. Doch die wirkmäch-
    tigste Gruppe besteht aus jenen, die
    einfach nur zuschauen, weil sie dem
    Zauber des Schrecklichen erliegen.
    Greenblatt: »Etwas in uns genießt
    jede Minute seines fürchterlichen Auf-
    stiegs zur Macht.« Es ist der voyeuris -
    tische Blick, der die Bürger lähmt, und
    so wendet sich das Foto der lesenden
    Kanzlerin wieder gegen den neugieri-
    gen Betrachter. Du sollst nicht zusehen,
    wie gelesen wird, sondern selbst lesen.


An dieser Stelle schreiben Nils Minkmar und
Elke Schmitter im Wechsel.

ARMANDA CLARO / ARD DEGETO
Szene aus »Lissabon-Krimi« mit Tarrach, Luís Lucas
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