DER SPIEGEL Nr. 33 / 10. 8. 2019 109
Strenger, 61, ist Professor für Psychologie
und Philosophie an der Universität Tel
Aviv. Der gebürtige Schweizer wuchs in
einer orthodoxen jüdischen Familie auf.
Neben seiner Lehrtätigkeit schreibt er für
die Tageszeitung »Haaretz« und praktiziert
seit 30 Jahren als Psychoanalytiker. In
seinem neuen Buch »Diese verdammten
liberalen Eliten« beschäftigt er sich mit
der Frage, warum diese Schicht in Verruf
ge raten ist – und weshalb sie dennoch
gebraucht wird*.
SPIEGEL:Herr Strenger, wenn ein Gefühl
die Populisten aller Länder vereint, dann
ist es die Wut auf das Establishment. Wie
ist dieses Feindbild entstanden?
Strenger:Als Psychoanalytiker kenne ich
die sogenannte liberale Elite aus einer in-
timen Perspektive. Seit vielen Jahren stellt
sie die überwiegende Mehrheit meiner
internationalen Patienten. Wissenschaftler,
Architekten, Programmierer, Professoren,
Journalisten, Künstler, Unternehmer, fast
alles Akademiker. Ich habe auf diesem
Weg viel über die Gemeinsamkeiten ge-
lernt, die sie auszeichnen, über ihre typi-
schen psychologischen und existenziellen
Schwierigkeiten, ihre Freuden, Ambitio-
nen und Sorgen. Und ich habe festgestellt:
Ein einfaches Feindbild geben die neuen
liberalen Kosmopoliten jedenfalls nicht ab.
SPIEGEL: Müssen sie einfach nur als
Popanz für den populistischen Furor von
Demagogen herhalten?
Strenger:Liberal ist ein problematischer
Begriff. In Europa wird er oft mit neolibe-
ral verwechselt, also einer weitgehend de-
regulierten Marktwirtschaft. Das trifft auf
die meisten Liberalen, so wie ich das mei-
ne, nicht zu. Die Liberalen, von denen ich
spreche, werden vor allem in den Sozial-
und Geisteswissenschaften ausgebildet.
Sie zählen nicht zu den wirklich Reichen,
gehören eher der oberen Mittelklasse an,
aber nicht mehr als das. Es geht ihnen zu-
- Carlo Strenger: »Diese verdammten liberalen Eliten.
Wer sie sind und warum wir sie brauchen«. Suhrkamp;
172 Seiten; 16 Euro.
nächst einmal darum, die Freiheiten des
Individuums zu bewahren, den eigenen
Lebensstil zu bestimmen, selbstständig da-
rüber zu befinden, was sie besitzen, was
sie konsumieren, was sie glauben wollen
und was nicht.
SPIEGEL:Warum werden sie dann als Be-
drohung wahrgenommen?
Strenger:Das ist paradox, denn die meis-
ten liberalen Intellektuellen sind auf die
eine oder andere Art sozialdemokratisch
orientiert. Das ist ja etwas, was wir aus
der breiten Mitte der europäischen Gesell-
schaften eigentlich gut kennen. Es handelt
sich um Menschen, die sich nicht nur um
ihr eigenes Wohlergehen und Fortkommen
kümmern, sondern schon von ihrer Aus-
bildung her auch das Bedürfnis haben, die
Welt besser zu machen.
SPIEGEL:Selbst ernannte Weltverbesserer
geraten allerdings leicht in Verruf. Werden
sie deshalb als anmaßend und bevormun-
dend gesehen?
Strenger:Sie haben jedenfalls eine klare
moralische Grundhaltung: humanistisch
und, wie gesagt, sozialdemokratisch in
dem Sinn, dass sie eine gewisse Umvertei-
lung für unerlässlich halten, um das Funk-
tionieren der Gesellschaft sicherzustellen.
SPIEGEL:Mithin eigentlich das Gegenteil
von Egozentrikern und Außenseitern?
Strenger:An den Universitäten und in den
Qualitätsmedien sind sie sehr stark vertre-
ten, auch im SPIEGEL, wie ich vermute.
Deshalb strahlen sie eine auf hohen mora-
lischen Ansprüchen begründete Autorität
aus, die jenen Menschen, die nicht so gut
ausgebildet sind und über weniger argu-
mentativ geschulte Kompetenz verfügen,
das Gefühl gibt, ihre Ansichten seien
schlicht nicht mehr gefragt und ihre Sorgen
zu kleinlich, um gehört zu werden – umso
mehr, als die neuen liberalen Kosmopoli-
ten die ganze Menschheit als ihre relevante
Bezugsgruppe betrachten.
SPIEGEL:In diese Kerbe schlagen die
populistischen Politiker, indem sie vorge-
ben, den einfachen Leuten von nebenan,
dem Volk, wie sie sagen, Stimme und Stolz
zurückzugeben.
Strenger:Sie versprechen den Leuten,
dass sie sich dem angeblich überlegenen
Wissen der Bessergebildeten nicht länger
fügen müssen. Wir Liberale haben Men-
schen, die unsere Ansichten, unser Welt-
bild und unsere Werte nicht teilen, allzu
oft von oben herab behandelt und sie als
beschränkt oder provinziell abgestempelt.
Auch ich habe in meiner Rolle als öffentli-
cher Intellektueller diesen Fehler gemacht.
Es ist daher wenig überraschend, dass vie-
le Angehörige der Unter- und unteren Mit-
telschicht, die nun von Populisten agitiert
werden, etwas empfinden, was Sozialpsy-
chologen als »upward contempt«, gegen
»die da oben« gerichtete Verachtung, be-
zeichnen.
SPIEGEL:Bildet die liberale Elite eine Klas-
se, gegen die sich der Unmut einer anderen
richtet?
Strenger:Ich benutze den Begriff der Klas-
se bewusst nicht, weil ich glaube, dass der
marxistische Klassenbegriff heute im We-
sentlichen nicht mehr relevant ist. Statt-
dessen geht es mir darum, ein präziseres
Porträt dieser kosmopolitischen Liberalen
mit ihren Stärken und Unsicherheiten zu
erstellen. Wer sind sie, und wie sind sie
geworden, was sie sind? Ich möchte dem
Bild entgegenarbeiten, dass es sich da um
eine hochnäsige Elite, um einen Haufen
selbstgerechter Snobs handelt, die ihre ei-
genen Interessen, Privilegien und Marot-
ten ohne Rücksicht auf die Schwächeren
verfolgt. Das stimmt gerade nicht. Ihr Le-
ben ist meist viel komplexer und kompli-
zierter, als viele Stereotype nahelegen.
SPIEGEL:Inwiefern?
Strenger:Ihre Identität, ihr Status und
ihre Positionen in der Wissenschafts- oder
in der Kunstwelt, in den Qualitätsmedien
oder den Forschungs- und Entwicklungs-
abteilungen der großen Konzerne hängen
von ihren persönlichen, ständig überprüf-
baren Leistungen ab, und gerade deshalb
können sie sich ihrer nie wirklich sicher
sein. Ihre Selbstachtung gründet nicht auf
ihrer Zugehörigkeit zu nationalen, ethni-
schen, regionalen oder religiösen Kollek-
tiven. Da sie aufgrund ihrer Mobilität nicht
Kultur
»Die Aufklärung ist uns nicht
von der Natur mitgegeben«
SPIEGEL-GesprächDie kosmopolitischen Eliten haben gerade keinen guten Ruf. Sie seien arrogant
und hätten die Sorgen der Bevölkerung vergessen, wird ihnen vorgeworfen. Der Psycho -
analytiker Carlo Strenger verteidigt sie. Er weiß, wovon er spricht – denn er hat sie auf seiner Couch.