oder nur schwach in einer lokalen Gemein-
schaft verwurzelt sind, erfahren sie selten
jene Geborgenheit, die mit dieser Form
der Zugehörigkeit häufig einhergeht.
SPIEGEL:Auch Kosmopoliten kämpfen
mit dem Dilemma Freiheit versus Sicher-
heit?
Strenger:Sie sind diesem Zwiespalt sogar
noch stärker ausgesetzt als andere Grup-
pen. Das ist der Grund, weshalb sie mit
größerer Wahrscheinlichkeit unter Einsam-
keit leiden. Und sie plagt die Angst vor
dem Absinken in Bedeutungslosigkeit. Je
höher die Anforderungen, die man an sich
selbst stellt, umso schwieriger das Gefühl,
etwas Belangvolles erreicht zu haben. Un-
ablässig nagt die Frage: Habe ich mich ge-
nug angestrengt? Leiste ich genug? Lebe
ich ein bedeutungsvolles Leben?
SPIEGEL:Heißt das, dass sie zwischen
Selbstüberschätzung und Versagensängs-
ten, zwischen Idealismus und Frustration
hin und her gerissen sind?
Strenger:Nach allem, was wir aus anthro-
pologischen Studien wissen, ist diese
Angst, irgendwann mit dem Tod spurlos
und ohne Hinterlassenschaft zu verschwin-
den, tatsächlich eine Konstante des
menschlichen Wesens. Ein Weg, mit dieser
Angst umzugehen, bestand immer schon
darin, Teil eines größeren Ganzen, einer
Zivilisation, Nation oder Glaubensgemein-
schaft zu sein, die das Individuum überlebt.
Der Umstand, dass die liberalen Eliten ihr
Handeln in einem globalen Rahmen ver-
stehen, legt für sie die Latte unglaublich
hoch – und hat die Nebenfolge, dass ihre
Position innerhalb der lokalen Gemein-
schaften, in denen sie leben, stets unsicher
bleibt.
SPIEGEL:Als »Anywheres«, die überall
leben können, stoßen sie auf die Zurück-
weisung durch die »Somewheres«, die in
ihrem Milieu verwurzelt sind?
Strenger:Auf den moralisch begründeten
Universalismus der liberalen Eliten reagie-
ren Gruppen, die stärker den kulturellen
Traditionen verhaftet sind, immer wieder
mit Ressentiments, sogar mit Hass. Sorgen
um die Zukunft des Planeten werden als
Diktat einer globalen Elite abgelehnt. Das
wiederum verstärkt bei dieser das Gefühl
der Isolation und reduziert ihre Bereit-
schaft, sich auf die Notwendigkeit von
Kompromissen mit Andersdenkenden ein-
zulassen.
SPIEGEL:Keine Gesellschaft kommt ohne
Eliten aus, dabei ist der Begriff der Elite
inzwischen fast immer negativ besetzt.
Wie lässt sich diese Kluft überwinden?
Strenger:Wir erleben heute ein faszinie-
rendes und sehr beängstigendes Phäno-
men. Die populistischen Strömungen und
Parteien erstarken in Ländern, die gar
nicht unter einem wirklich existenziellen
Druck stehen. Zum Beispiel Deutschland:
Die angebliche Gefahr einer Islamisierung
des Landes ist eine Fiktion, Fake News,
wenn Sie so wollen.
SPIEGEL:Aber das Unbehagen vieler Men-
schen angesichts der kulturellen Verände-
rungen in der Gesellschaft ist durchaus
real.
Strenger:Niemand bestreitet, dass mit der
Migration auch Integrationsprobleme ent-
stehen. Das ist die objektive Seite. Mich
interessiert viel mehr, wie Wähler popu-
listischer Parteien die Welt subjektiv er -
leben. Die liberale Elite ist zu ihrem
Buhmann geworden, der alles manipuliert,
alles kontrolliert, alle Fäden zieht.
SPIEGEL:Die Analogie mag problematisch
erscheinen, aber weist die moderne Ver-
dammung auf den liberalen Kosmopolitis-
mus nicht Ähnlichkeiten mit dem alten An-
tisemitismus auf?
Strenger:Absolut. Gewisse Klischees, die
im antisemitischen Diskurs existierten und
weiter existieren, werden auf die liberalen
Eliten übertragen: entwurzelt, vaterlands-
los, nicht bereit, sich für die Heimat ein-
zusetzen. Vieles, was früher über die Ju-
den zu hören war, kommt in den Angriffen
der Antiliberalen zurück. In Ungarn und
in Polen tritt der Antisemitismus offen zu-
tage; bei der AfD und beim Rassemble-
ment National von Marine Le Pen in
Frankreich ist er unterschwellig spürbar
und wird nur deswegen nicht offen ausge-
drückt, weil das in Westeuropa nicht sa-
lonfähig ist.
SPIEGEL:Bedrückt es Sie, dass auch Israel
den Weg in eine illiberale Demokratie ein-
schlagen könnte?
Strenger:Israel ist ja eine Gesellschaft, die
beständig unter wirklichem Druck steht.
Man muss nicht mit dem Likud einverstan-
den sein, der Partei von Ministerpräsident
Benjamin Netanyahu, was ich als Links -
liberaler ganz sicher nicht bin, um die Be-
drohungen von außen als real zu erkennen.
Absurderweise finden sich jedoch diesel-
ben Begriffe, die im westlichen Ausland
gegen die liberalen Eliten verwendet wer-
den, auch in Israel. Israelische Rechts -
populisten schöpfen durchaus aus dem Be-
griffsrepertoire des antisemitischen Dis-
kurses, um ihre Gegner zu verunglimpfen.
Und sie schrecken auch vor Gewalt nicht
zurück. Einem Kolumnisten der liberalen
Zeitung »Haaretz«, für die auch ich regel-
mäßig schreibe, wurde ein Sprengkörper
vor die Tür gelegt.
SPIEGEL:Unsere politische und kulturelle
Vorstellung des Westens beruht seit dem
Ende des Zweiten Weltkriegs auf der Über-
legenheit der liberalen Demokratie und
dem Konzept der offenen Gesellschaft.
Stehen wir bereits vor einer historischen
Zäsur? Befinden wir uns in einem Kultur-
kampf, in dem das Erbe der Aufklärung
auf dem Spiel steht?
Strenger:Ich glaube in der Tat, dass es
um die Zukunft des Westens geht. Wie soll
er aussehen? Soll er die liberalen Werte
mit ihrem universalistischen Anspruch und
der Idee der allgemeinen Menschenrechte
verkörpern? Oder wird er auf den alten
Nationalismus zurückgehen, weil nur die-
ser für viele Menschen der Bezugspunkt
ist, mit dem sie sich identifizieren können?
Ich bin ein Deutscher, ein Franzose, ein
Engländer, ein Pole, ein Ungar – das ver-
stehe ich. Aber ein Europäer? Das sagt mir
wenig oder gar nichts. Gar ein Weltbürger?
Da löst sich Identität vollends in Abstrak-
tion auf. Und doch führt nichts an der Er-
kenntnis vorbei, dass die Probleme, vor
denen wir stehen, nur im globalen Maß-
stab gelöst werden können.
SPIEGEL:Aber was ist dann schiefgelaufen?
Versagen die Aufklärer und Weltverbesse-
rer, weil ihre universalistische Perspektive
den Blick auf das Konkrete verstellt?
Strenger:Ich habe leider kein Erklärungs-
modell für das, was gegenwärtig in der
Welt passiert. Die Unterscheidung zwi-
schen links und rechts ist hinfällig gewor-
den, sie funktioniert einfach nicht mehr.
Für mich ist es in dieser Hinsicht bezeich-
nend, dass es heute sowohl einen links-
wie einen rechtspopulistischen Antisemi-
tismus gibt. Das einzige Paradigma, das
noch übrig geblieben ist, scheint mir der
Gegensatz zwischen einem liberalen und
einem autoritären Regime zu sein. Wie
viel Freiheit wollen wir in unserem Land
haben? Wollen wir den Status des Bürgers
rein rechtlich definieren oder auch eth-
nisch? Begriffe wie Nation oder Ethnie
sind Konstruktionen, weder Frankreich
noch Deutschland oder Israel sind heute
ethnisch homogene Nationen. Am Grunde
aller Spannungen, Polarisierungen und An-
tagonismen lauert immer wieder der Anti -
liberalismus und in ihm die Flucht vor der
eigenen Freiheit und der damit einher -
gehenden Verantwortung.
SPIEGEL:Die Vereinzelung, die »Gesell-
schaft der Singularitäten«, wie sie genannt
wurde, widerstrebt der archaischen Ver-
anlagung des Menschen?
Strenger:Ich will nicht zu tief in die soge-
nannte menschliche Natur hineingraben,
aber biologisch sind wir schon sehr auf
* Romain Leick in Tel Aviv.
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Kultur
JONAS OPPERSKALSKI / DER SPIEGEL
Strenger mit SPIEGEL-Redakteur*
»Hohe moralische Ansprüche«