er Spiegel - 10. August 2019

(John Hannent) #1
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as allererste Lebewesen in der nordischen Mythologie
war ein zwitterhafter Riese namens Ymir, geboren aus
einer Mischung aus Gletschereis und Feuer. In der
»Snorra-Edda«, einem Meisterwerk isländischer Dichtung
aus dem 13. Jahrhundert, heißt es: »Als Nächstes kam, als
Raureif tropfte, die Kuh Auðumla auf die Welt. Vier Milch-
flüsse flossen aus ihrem Euter, und sie fütterte Ymir.«
Gletscher sind wichtig für die Isländer, sie waren es schon
immer. Mehr als 300 gibt es auf der Insel. Sie sind Mythos
und Alltag zugleich.
Neuerdings sind sie Anlass zur Sorge. Denn sie schmelzen.
Am kommenden Wochenende
wird am Rande vom Okjökull, ei-
nem Gletscher im Westen des
Landes, eine Gedenktafel ent -
hüllt.
»Brief an die Zukunft« wird auf
der Kupferplatte stehen, in islän-
discher Sprache: »Ok ist der erste
bekannte Gletscher auf Island, der
seinen Status als Gletscher verlo-
ren hat. In den kommenden 200
Jahren dürften ihm alle unsere
Gletscher folgen. Diese Gedenk-
stätte soll bezeugen, dass wir wis-
sen, was geschieht und was zu tun
ist. Nur ihr werdet wissen, ob wir
es getan haben.«
Vor dem Ersten Weltkrieg be-
deckte Okjökull noch eine Fläche
von etwa 15 Quadratkilometern.
Er bewegte sich, für das Auge
kaum sichtbar, ein paar Zentime-
ter bis einige Meter am Tag.
Als er im Jahr 2012 ein letztes
Mal vermessen wurde, bedeckte
der Okjökull eine Fläche von nur
noch 0,7 Quadratkilometern.
Er bewegte sich nicht mehr.
Aus wissenschaftlicher Sicht ist der Okjökull damit kein
Gletscher mehr. Gletscher müssen schwer genug sein, um
sich unter ihrem eigenen Gewicht bewegen zu können. Ok-
jökull ist nicht mehr als ein Berg mit etwas Eis drauf.
Am 4. September 2014 kam Oddur Sigurðsson, ein islän-
discher Glaziologe, und stellte dem Okjökull die Todes -
urkunde aus. Der Gletscherforscher erklärte den Okjökull
zu einer »Masse toten Eises«. Seitdem fällt der Zusatz »Jö-
kull«, »Gletscher«, weg. Der Okjökull heißt nur noch Ok.
Oddur Sigurðsson arbeitet am isländischen Meteorologi-
schen Institut in Reykjavik, am Telefon erklärt er, warum er
das verbleibende Eis nicht mehr maß, als er den Ok vor fünf
Jahren besuchte: »Man konnte schon an den Eiskristallen er-
kennen, dass es vorbei war.« Gletscherkristalle werden faust-
groß. Was die Eisschicht des Ok zu bieten hatte, sei über fünf
Zentimeter nicht hinausgegangen.


Jedes Jahr schmelzen weltweit als Folge des Klimawan-
dels etwa 335 Milliarden Tonnen Gletschereis, das ist drei-
mal so viel wie das verbleibende Gletschervolumen der
Euro päischen Alpen. Wegen der Gletscherschmelze steigt
der Meeresspiegel um fast einen Millimeter pro Jahr. Ne -
ben den Gletschern in Alaska und Patagonien verlieren
die Gletscher um den Nordpol, darunter die isländischen,
das meiste Eis.
Dank des technischen Fortschritts – der den Klimawandel
mitverursacht hat – kann man die Gletscherschmelze im-
merhin präzise dokumentieren.
Etwa elf Prozent der Oberfläche von Island sind noch von
Gletschern bedeckt. Der Okjökull gehörte zu den kleineren
unter ihnen, anders als etwa der Vatnajökull im Südosten,
der größte Gletscher Europas außerhalb des Polargebiets.
Die meisten isländischen Gletscher sitzen auf Vulkanen;
der mögliche Zusammenhang zwischen Gletscherschmelze
und Vulkanausbrüchen wird noch untersucht. Wenn es ei-
nen isländischen Gletscher gibt, von dem jeder schon mal
gehört hat, dann ist es der Eyjafjallajökull. Mit seiner
Asche legte er im Jahr 2010 den Flugverkehr in weiten Tei-
len Nord- und Mittel europas lahm.
Im vergangenen Jahr drehten
zwei US-amerikanische Anthropo-
logen einen Dokumentarfilm über
den Ok, den Gletscher, der keiner
mehr ist. Der Film heißt »Not Ok«.
Es ist keine klassische Doku. Eher
ein Nachruf.
Die beiden Anthropologen, Cy-
mene Howe und Dominic Boyer
von der Rice University in Houston,
Texas, waren ursprünglich nach Is-
land gekommen, um die Folgen
der Finanzkrise von 2008 zu erfor-
schen. Mittlerweile finden sie die
Gletscherkrise relevanter. Howe
sagt, sie erforsche die »cryohuman
relations«, kryomenschliche Bezie-
hungen also: eine Wortschöpfung,
in der »kryo« für Eis steht, von
griechisch »kryos«, »kalt«.
Inzwischen planen sie eine Lang-
zeitbeobachtung. Was macht es
mit einer Gesellschaft, wenn Glet-
scher sterben? Es waren die bei-
den Amerikaner, die irgendwann
die Idee mit der Gletschergedenk-
stätte hatten. »Gedenkstätten er-
innern an Errungenschaften«, sagt
Boyer am Telefon aus Texas. »Auch diese Gedenkstätte er -
innert an eine Errungenschaft. Eine zweifelhafte.«
Aus glaziologischer Sicht ist der Okjökull nicht der erste
isländische Gletscher, der seinen Status verloren hat. Dut-
zende kleinere, zum Teil namenlose Jökulls sind seit der Jahr-
tausendwende verschwunden. Okjökull ist der erste bekannte
Gletscher, dem das widerfahren ist.
Man konnte ihn von der Ringstraße aus sehen, die um die
Insel führt, er kam in Gedichten vor und in Sagen. Im Mittelalter
schrieb man ihn auch als »Oc«. Der isländische Namensforscher
Hallgrímur Jökull Ámundason sah sich vor einigen Jahren Luft-
aufnahmen vom Ok an und stellte fest, dass der Krater von
oben wie ein schwarzes O aussah. Und um das O herum
schmiegte sich, wo das Eis geschmolzen war, ein graues C.
»Er hat zum Abschied seinen eigenen Namen geschrieben«,
sagt Hallgrímur Jökull Ámundason. Timofey Neshitov

Totes Eis


Warum ein isländischer Gletscher
eine Gedenktafel bekommt

Eine Meldung und ihre Geschichte

Okjökull um 2008

Von der Website Tagesschau.de
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