D
ie »Mein Schiff 6«, fast 300
Meter lang, fast 60 Meter über
Wasser hoch, wäre für Piraten
eine fette Beute. Beim Auslau-
fen Ende Juni in Triest hat sie
9,5 Tonnen Frischfleisch geladen, 5,3 Ton-
nen Fische und Krustentiere, 14,4 Tonnen
Gemüse, 11,6 Tonnen Obst, 28 000 Eier,
7100 Croissants, fast 14 000 Liter Bier,
Wein und Prosecco. Irgendwo im flachen
Bauch des Schiffes lagern auch 32 Kilo-
gramm Kaviar und ein paar Hundert Fla-
schen Champagner, Proviant für dreiein-
halbtausend Seelen, die sich für sieben
Tage aufs Meer begeben: rund tausend
Mann Besatzung und 2534 Kreuzfahrer
des frühen 21. Jahrhunderts.
Die See vor Triest ist ruhig an diesem
Sonntagabend, an Bord dröhnt Musik, so
laut, dass sie jeden Winkel des Schiffes er-
reicht. Es läuft ein Lied, das sie »die Aus-
laufhymne« nennen und das mittlerweile
mehrere Generationen von Gästen der
»Mein Schiff«-Flotte verbindet. »Oh, gro-
ße Freiheit, ich hab mich nach dir gesehnt«,
singt die Band »Unheilig«, »Du bist ein
Kind der See, und die Welt liegt dir zu
Füßen«. Das Lied passt gut zu den Wör-
tern, die in riesiger Schreibschrift an die
Bordwände gemalt sind: Staunen. Freude.
Durchatmen. Wohlfühlen.
Dass ein deutscher Hit den Golf von
Triest beschallt, hätte in früheren Zeiten Un-
heil bedeutet. Womöglich ist das heute wie-
der so, wenn auch aus ganz anderen Grün-
den. Weltweit brechen gerade neue morali-
sche Kämpfe los, die das Reich von Urlaub
und Tourismus – und die Kreuzfahrtindus-
trie zumal – in ein ideologisches Minenfeld
verwandeln. Ein Primat des Ökologischen
ist im Entstehen, der in Widerspruch gerät
nicht nur zur kapitalistisch organisierten
Ökonomie, sondern auch zur individuellen
Freiheit. Es stellen sich jetzt allerorten
unbequeme Fragen an den Way of Life der
Wohlstandsgesellschaften, denen das selbst-
zufriedene Wohlfühlen im Angesicht des
Klimawandels immer schwerer fällt.
Ist es vernünftig, von Berlin nach Triest
zu fliegen, um dann mit einem Schiff eine
Woche lang auf dem Mittelmeer zu kreu-
zen? Ist es verantwortbar, zum Spaß auf
See herumzufahren, wenn dabei pro Stun-
de bis zu fünf Tonnen Treibstoff verbrannt
werden, Schweröl vorzugsweise, wie das
auch auf der »Mein Schiff 6« der Fall ist?
Ist der Anblick nicht empörend, wenn sich
eines dieser schwimmenden Hotels, mas-
sig wie ein Wohnblock, ins zierliche Vene-
dig schiebt oder vor die Altstadt von Du-
brovnik? Und merkt eigentlich noch ir-
gendwer, wie absurd die Gleichzeitigkeit
von Kreuzfahrten und Flüchtlingsbooten
auf dem Mittelmeer ist?
Während Ende Juni vor Triest achtern
die Lichter der Küste verschwinden, wer-
den in den zwölf Bars der »Mein Schiff 6«
die Bier-, Wein- und Proseccovorräte an-
gegangen. Auf einem der Balkone: das
Ehepaar Pape, Dietmar und Renate, er 78,
sie 74, pensionierte Lehrer aus Braun-
schweig, zum sechsten Mal auf Kreuzfahrt.
Auf der Brücke: Kapitän Simon Böttger,
37, ein Holsteiner, der seit 17 Jahren zur
See fährt und tatsächlich auch auf der MS
»Deutschland« gearbeitet hat, dem welt-
berühmten »Traumschiff«. Weit unter
Deck: Harold, ein anonymer Arbeiter aus
der Putzkolonne, der für 2,81 Dollar Stun-
denlohn an sieben Tagen die Woche für
die von Kreuzfahrtpassagieren hochge-
schätzte Sauberkeit sorgt.
Die »Mein Schiff 6« ist für mehr als 2500
Passagiere gebaut und eines von sieben
Schiffen der Firma TUI Cruises. Man be-
wegt sich in einem globalen Wachstums-
markt, 28,5 Millionen Urlauber waren 2018
weltweit auf Kreuzfahrt, knapp 11 Millio-
nen mehr als 2009. Allein die Zahl der
Deutschen an Bord hat sich in den vergan-
genen zehn Jahren mehr als verdoppelt, auf
2,2 Millionen, in Europa sind nur die Briten
ähnlich begeisterte Kreuzfahrer. Der Trend
zeigt steil nach oben. Der Verband der
Kreuzfahrtindustrie, CLIA, geht davon aus,
dass bis 2030 sechs Millionen Deutsche ih-
ren Jahresurlaub auf einem Schiff verbrin-
gen könnten. Was suchen sie dort?
Das Ehepaar Pape aus Braunschweig
macht normalerweise im Wohnmobil Ur-
laub, Kreuzfahrten sind für sie das ganz Be-
sondere, mit dem sie sich ab und an beloh-
nen. Auf einer Heimfahrt in ihrem Camper
aus dem Süden sind sie einmal am Hafen
von Triest vorbeigekommen, haben von
der Autobahn oben die Schiffe und das Was-
ser funkeln sehen und beschlossen, irgend-
wann einmal von hier in See zu stechen.
Während der Woche an Bord der »Mein
Schiff 6« sitzen die Papes jeden Abend um
18 Uhr am Fenster im Restaurant »Atlantik
Mediterran« auf Deck 4. Sie genießen die
fünf Gänge, die im Preis inbegriffen sind,
trinken den Rosé, den es ohne Aufpreis
dazu gibt. Sie rechnen, wo sie sich einen
Landgang gönnen wollen und worauf sie
verzichten können. Dubrovnik kennen sie
schon, da gehen sie ohne Guides auf Er-
kundung. In Kotor zahlen sie für einen
Landausflug, weil sie da noch nie gewesen
sind. Am wichtigsten ist ihnen das Woh-
nen in einer Balkonkabine. Ohne die, das
ist klar, würden sie eine Kreuzfahrt gar
nicht erst antreten.
Die Papes haben den Tarif »Balkonka-
bine Flex« gebucht, für 1500 Euro pro Per-
son, was bedeutet, dass sie erst wenige Tage
vor Reiseantritt erfahren, welche Kabine
ihnen zugewiesen wird. Zu Hause, in
Braunschweig, schlafen sie in getrennten
Schlafzimmern, auf Kreuzfahrt teilen sie
sich ein Bett. Nach dem Abendessen holt
Dietmar Pape sich ein Bier und seiner Frau
einen alkoholfreien Drink an der Bar, ihren
Sundowner genießen sie dann auf dem Bal-
kon. Sehr praktisch sei auch, sagen sie, dass
man in den Nächten auf dem Mittelmeer
die Balkontür einfach offen lassen könne.
Sicherheit und Sauberkeitstehen bei
Kreuzfahrtpassagieren hoch im Kurs.
Kreuzfahrten seien die bequemste Art, die
Welt zu entdecken, sagen in einschlägigen
Erhebungen mehr als 80 Prozent der Be-
fragten, und das lässt sich als Reaktion auf
heutige Krisen leicht interpretieren. Die
Zeiten, da man sich zur Bildungsreise
nach Damaskus aufmachen konnte, auf
dem Landweg womöglich, sind bis auf
Weiteres vorbei. Vormals klassische Ur-
laubsländer wie Ägypten, Tunesien oder
die Türkei wurden durch Terrorattacken
und sonstige Tumulte schwer beschädigt.
Die Fremde, in die man einst zur Erweite-
rung des eigenen Horizonts aufbrach,
wirkt bedrohlicher denn je.
Die Kreuzfahrtindustrie verspricht Ab-
hilfe, den Urlaub ohne Reue, indem sie
zwei unvereinbare Welten zu verheiraten
vorgibt: In der Balkonkabine verschmel-
zen Fernreise und Daheimsein, man ist bei
sich und doch woanders. Bei der Tour der
»Mein Schiff 6« von Triest nach Malta, im-
mer die Küste entlang, liegt der Balkan im-
mer nur einen Steinwurf von Balkonien ent-
fernt, und das ist letztlich die ganze Idee.
Das Fremde behält seinen Reiz, aber ver-
liert seinen Schrecken. Die Welt löst sich
auf in gut geplante Landausflüge, und die
Begegnung mit dem anderen folgt einem
klar getakteten Tagesplan. Niemand muss
Angst haben, er könne zwischendurch nicht
auf eine ordentliche Toilette, die abendliche
Rückkehr zum eigenen Zahnputzbecher ist
garantiert, und gegen das Heimweh gibt es
Hackbraten und deutsche Kuchen.
Die Papes können daran nichts Lebens-
fremdes oder Weltflüchtiges erkennen, sie
mögen einfach die Abwechslung der Schiffs-
reise, sagen sie. Dass sie während einer Wo-
46
Titel
Ehepaar Pape auf seinem Kabinenbalkon
Zu Hause schlafen sie
in getrennten Schlafzim-
mern, auf Kreuzfahrt
teilen sie sich ein Bett.
FELIX HUTT / DER SPIEGEL