er Spiegel - 10. August 2019

(John Hannent) #1

54 DER SPIEGEL Nr. 33 / 10. 8. 2019


S


eit dem Tag, an dem Stan zu uns kam, war uns klar,
dass Stan in Gefahr war, jede Minute, jede Sekunde;
vielleicht war das der Grund, warum meine Frau Stan
so liebte. Stan war eine Vase aus dem Hause Kaheku, Deko
und Wohnaccessoires.
Stan, schlank und silbergrau, stand bei uns im Flur auf
dem Schuhschrank, auf einer Glasplatte, 20 Zentimeter breit.
Sie stand das erste Jahr und überstand das zweite, ich hörte
sie hinter mir kippen, aufschlagen, zerspringen, als ich mich
im dritten Jahr mit einer Matratze um das Geländer der
Kellertreppe wand. Ich wusste, was das bedeutete. Ich
hatte Stan auf dem Gewissen. Wir brauchten eine neue
Stan.
Ich googelte sie im Netz, anscheinend die
Letzte ihrer Art. Die Händlerin verlangte
31 Euro. Ich war erleichtert. Ich nahm mir
vor, Stan ohne Worte einfach wieder hin-
zustellen, als wäre sie nie aus unserem Le-
ben gerissen worden.
Frau B., die Händlerin, bedankte sich für
meine Bestellung, ich zahlte und wartete.
Zwölf Tage vergingen. Nichts passierte. Ich
schrieb: »Gibt es ein Problem?« Keine Ant-
wort. Ich wartete weitere vier Tage, dann
schrieb ich: »Sehr geehrte Frau B. ... setze
ich Ihnen hiermit letztmalig Frist ... werde
ich daher bei der Polizei Strafanzeige wegen
Betrugs erstatten.« Ich fand, die Zeit für
Amtsdeutsch war gekommen – oder was
ich dafür hielt und Frau B. dafür halten soll-
te. Keine Antwort. Keine Vase. Ich las Be-
wertungen: »Verkäufer reagiert nicht«,
»Schlechte Erfahrung«, »Nie wieder!!!!!«,
»Vermutlich Betrüger«. Ich bereitete mich
auf einen Kampf vor.
Drei Tage später gingen die 31 Euro auf
meinem Konto ein. Kommentarlos. Geht
doch. Es fühlte sich gut an. Aber so schnell
wollte ich Frau B. nicht davonkommen lassen.
Beim SPIEGELarbeite ich vor allem an
investigativen Geschichten. Fast immer geht
es um Korruption, um Betrügereien, um
Gier. Ich habe mich mit Thomas Middelhoff
angelegt, mit Alice Schwarzer, Franz Be-
ckenbauer, Otto Schily, Ex-Airbus-Chef Tom
Enders, den DFB-Präsidenten Niersbach
und Grindel; wer das 20 Jahre lang macht,
vermutet überall nur noch Abgründe.
Ich ging noch mal auf die Seite von Frau
B. Und fand die Vase, sie war immer noch
im Angebot: »Edle Vase Stan«. Sofort ver-
fügbar. 31 Euro. Gegen Vorkasse. Eigentlich
konnte mir das egal sein. Eine Betrügerin,
ziemlich sicher. Hat keine Stan, absolut si-
cher. Fährt jemand ernsthaft 202 Kilometer,
um ihr das ins Gesicht zu sagen?
Ich stehe vor einem Hochhausblock. Die
Website hatte einen Laden gezeigt, aber

hier gibt es keinen Laden, nur einen Eingang mit acht Klin-
geln. Meine Jagdleidenschaft facht das nur noch an.
Ich möchte Frau B. kennenlernen. Frau B. soll mich ken-
nenlernen. Natürlich weiß ich, wie so etwas läuft. Ich habe ge-
nau einen Satz an der Gegensprechanlage, bestenfalls zwei
Sätze an der Wohnungstür. Wenn ich überhaupt so weit kom-
me. Wer will schon reden? Alles Weitere schriftlich, mit Fragen,
die, wenn überhaupt, nichtssagend beantwortet werden.
Frau B. drückt auf den Türsummer, sie macht ihre Woh-
nungstür auf; worum geht es, eine Vase? Ich soll hereinkom-
men. Ich sage: Dahlkamp, ich suche meine Vase, aber außer-
dem schreibe ich für den SPIEGEL, wie ich meine Vase suche.
Meine Vase und eine Betrügerin. »Ja, kommen Sie herein.«
Frau B. schiebt ein paar Schuhe aus dem Gang, außerdem
eine Toilettenpapierrolle; ein Kleinkind schreit aus dem Ne-
benzimmer. Sie setzt sich an einen schwarzen Schreibtisch
im Wohnzimmer, der Schreibtisch ist ihr Geschäft. Das, was
davon übrig blieb. »Ich bin keine Betrügerin, ich habe nur
auf ganzer Linie versagt.« Zwei Minuten, und sie wischt sich
Tränen aus dem Gesicht. Sie ist 32, blond, dunkle Augen. Sie
sagt, sie habe 2014 mit ihrem Freund den Internetladen er-
öffnet, Dekoartikel und Möbel. Der Freund konnte program-
mieren, sie hatte Geschmack. Am Anfang
sei es gut gelaufen. Sie lieferten bis Japan,
Australien, sie schafften in manchen Mona-
ten 50 000 Euro Umsatz, machten ein Ge-
schäft in der Stadt auf, 3000 Euro Miete.
Aber sie seien keine Kaufleute gewesen. Ihr
Freund, erzählt sie, habe zu viel mit sich
selbst zu tun gehabt, als dass er sich noch
um den Laden hätte kümmern können, ein-
mal stellte er 7000 Artikel bei Amazon ein,
unter Einkaufspreis. Kam tagelang nicht zur
Arbeit, alles zerfiel. Sie verloren den Laden
in der Stadt, zogen um in einen kleineren,
im Hochhausviertel, sie verloren auch den.
Schließlich verließ sie ihren Freund, es
ging nicht mehr. Sie fand einen neuen Freund,
wurde schwanger, der Neue war nicht gut
zu ihr, sie verzieh ihm, es wurde nicht besser,
sie warf ihn raus. Er zahlt kein Geld, das
Kind schreit, es kommen Rechnungen, noch
mehr Rechnungen. Irgendwann habe sie be-
schlossen, nicht mehr auf Beschwerden zu
antworten, keine Briefe mehr zu öffnen. Sie
hatte sich und alles fallen lassen.
»Ich stehe wie eine Verliererin da, ich fra-
ge mich, warum mir das alles passiert ist.«
Aber die Vase? »Hab ich Ihnen die nicht zu-
geschickt?« Nein, nur den Preis erstattet.
Sie schaut in den Computer, irgendwo muss
der Vorgang doch sein. »Warum bieten Sie
die Vase denn immer noch an?« Sie holt
sich die Vase auf den Bildschirm, sie löscht
die Vase. Sie weint. Das Kind krabbelt über
den Boden, in der Ecke steht ein Wisch -
eimer mit schmutzigem Wasser.
Vielleicht stimmt die Geschichte nur zur
Hälfte. Ich rede mit der Frau in der Post, sie
kennt Frau B., früher waren sie wohl befreun-
det. Die Postfrau sagt: »Sie ist keine Betrü-
gerin, nur mit allem überfordert.« Kann sein.
Ich sollte die Polizei fragen, andere Käufer,
den Ex-Freund. Rechercheroutine. Es ist mir
inzwischen egal. Das Elend war echt.
Und Stan? Herrgott, Stan ist nur eine
Va se. Jürgen Dahlkamp

In Scherben


HomestoryWarum man als kritischer
Onlinekäufer manchmal an Grenzen stößt

Gesellschaft

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