er Spiegel - 10. August 2019

(John Hannent) #1
I

n der Nacht zu Montag, vor Mitternacht, verstummte
Kaschmir. Keine Nachrichten drangen nach außen,
kein Foto und kein Tweet. Es war, als wäre im Norden
Indiens ein gesamter Landstrich plötzlich vom Erd -
boden verschwunden – und mit ihm seine rund 13 Millionen
Einwohner.
Die indischen Behörden hatten Handy-, Festnetz- und In-
ternetverbindungen geblockt, auch das Fernsehen funktio-
nierte nicht. Die Bewohner von Jammu und Kaschmir waren
von der Außenwelt abgeschnitten. Wie es den Menschen
erging, was sich auf den Straßen abspielte – die Welt konnte
nur mutmaßen. Es war gespenstisch. Es
war genau so, wie es die Regierung in
Neu-Delhi geplant hatte. Niemand soll-
te mitbekommen, wie Premier Naren-
dra Modi mit einem Schlag die Region
neu ordnete.
Kaschmir gehört zu den großen, un-
gelösten Konflikten in der Weltpolitik –
und zu den gefährlichsten, weil sich
hier drei Atommächte gegenüberste-
hen: Indien und sein Erzrivale Pakistan,
aber auch China. Alle drei kontrollie-
ren Teile des ehemaligen Fürstentums
im Himalaja.
Der indische Teil, der einzige mehr-
heitlich muslimische Bundesstaat in
dem ansonsten mehrheitlich hinduisti-
schen Land, hatte bis zuletzt weitrei-
chende Autonomie genossen und besaß
eine eigene Flagge und Verfassung; die
Regierung in Jammu und Kaschmir
durfte – in vielen Bereichen – autonom
entscheiden.
Nun ist damit Schluss. Die Regierung
hat dem Bundesstaat seine Sonderrechte
entzogen. Kaschmir ist jetzt auch formal,
wie es in Indien oft heißt, ein »integraler Bestandteil Indiens«.
Die Region wird in zwei Teile gespalten, die künftig beide
weitgehend von Neu-Delhi aus kontrolliert werden sollen.
Modi riskiert auf diese Weise nicht nur neue Spannungen
mit Pakistan, das diese Woche aus Protest gegen den Auto-
nomieverlust Kaschmirs den indischen Botschafter des Lan-
des verwies. Sein Vorgehen verdeutlicht einmal mehr, wie
wenig sich der Premier zuweilen um demokratische Rechte
schert, wie sehr Hindunationalismus sein Denken bestimmt –
und auch die Geschicke der größten Demokratie der Welt.
Die Frage ist weniger, ob Modi mit der Neuordnung Kasch-
mirs gegen die Verfassung verstoßen hat; darüber könnte
bald der Oberste Gerichtshof entscheiden. Besorgniserregend
ist vielmehr, wie er diesen Schritt vollzogen hat.
Indien schickte in der Vorbereitung Tausende zusätzliche
Soldaten in das ohnehin hoch militarisierte Gebiet. Touristen
und hinduistische Pilger, die sich in der Region befanden,
sollten auf Anraten der Sicherheitsbehörden abreisen. Es
hieß, von Pakistan unterstützte Militante planten einen
Anschlag. Aber das war wohl vor allem ein Ablenkungs -

manöver. Modi ging es darum, das Ende des »alten« Kasch-
mirs zu besiegeln.
Prominente Politiker in Kaschmir wurden unter Hausarrest
gestellt, eine Ausgangssperre wurde verhängt. Ausländische
Journalisten, die nicht mehr ohne Sondergenehmigung in
die Region reisen dürfen, waren ohnehin nicht zugegen. Neu-
Delhi wollte nicht, dass die Welt hässliche Szenen zu Gesicht
bekommt.
Die Überrumplungsaktion gelang. Den Abgeordneten im
Oberhaus blieben nur wenige Stunden, um über die Gebiets-
reform zu befinden. Viel zu entscheiden gab es nicht mehr.
Weil in Jammu und Kaschmir vergan-
genes Jahr die lokale Regierung zerbro-
chen und keine neue zustande gekom-
men war, verfügte der Präsident per
Dekret über das Schicksal des Bundes-
staats. Bewohner fürchten nun, dass
sich künftig Auswärtige, vor allem Hin-
dus, ansiedeln könnten und damit die
Demografie der Region verändern. Bis-
lang war das kaum möglich.
Der Umgang mit Kaschmir ist be-
zeichnend für Modis zunehmend auto-
ritären Regierungsstil. Er gibt keine
Pressekonferenzen, und wenn doch,
dann gibt er keine Antworten. Er ver-
kündet seine Erfolge lieber über Twitter,
Radio und YouTube. Aber ob Indiens
Wirtschaft zum Beispiel wirklich so vie-
le Jobs schafft, wie die Regierung be-
hauptet, ob bei einem Luftangriff auf
pakistanisches Gebiet im Februar tat-
sächlich 200 bis 300 Terroristen star-
ben – all das gilt als fraglich. Aber zu
viele kritische Fragen stören.
Einheimische Journalisten, Aktivis-
ten und Akademiker klagen über Gän-
gelung, die Zahl der Anschuldigungen wegen Aufwiegelung
steigt. Amit Shah, der heutige Innenminister und enge Ver-
traute Modis, nannte muslimische Einwanderer aus Bangla-
desch »Termiten«, und die hindunationalistische Partei zeigt
sich überrascht, wenn im Anschluss radikale Hindus Muslime
lynchen.
Was in Indien passiert, ist nicht mit den Verhältnissen in
Russland oder der Türkei zu vergleichen. Indiens Demokratie
ist widerstandsfähig und lebendig. Aber auch hier gibt es
eine Sehnsucht nach dem starken Mann an der Spitze.
Im Mai gewann Modis BJP die Wahl mit absoluter Mehr-
heit. Auch unter Oppositionspolitikern fand das rabiate Vor-
gehen in Kaschmir Unterstützung.
Viele Bürger sind die Unruhen in Kaschmir leid. Kaschmir
gehöre zu Indien, finden sie, auch wenn viele Kaschmirer das
selbst anders sehen. Modi bedient die Sehnsucht nach ein -
fachen Antworten. Er schafft Tatsachen, und das ist es, was
in den Augen seiner Anhänger zählt. Seine Hauruck politik
in Kaschmir mag im Ausland für Empörung sorgen. Sein An-
sehen in Indien ist dadurch nur gestiegen. Laura Höflinger

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Überrumpelt


AnalysePremier Modi entzieht der Konfliktregion Kaschmir die Autonomie –
und demonstriert dadurch, wie wenig er sich um demokratische Rechte schert.

DER SPIEGEL Nr. 33 / 10. 8. 2019


Ausland

PRAKASH SINGH / AFP

Regierungschef Modi
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