er Spiegel - 10. August 2019

(John Hannent) #1

ist ein romantischer Mythos«, sagt die So-
ziologin Hella Dietz. Besonders in der Zeit
des Kriegsrechts, also zwischen 1981 und
1983, als die Gewerkschaft nur im Unter-
grund tätig sein konnte, habe sie viele Ar-
beiter verloren.
1989 wurde sie faktisch von den Dissi-
denten geführt. Wieder gab es Streiks.
Aber das Prinzip der Verhandlungen, des
»runden Tischs«, der friedlichen Einigung
war eingeübt.
In Polen hatte es begonnen, dann lief
es wie beim Dominospiel: Land für Land
klappte der Kommunismus zusammen.
Am 15. November 1989 trat Lech
Wałęsa an ein Rednerpult in den USA. Er
begann seine Rede vor Hunderten Mitglie-
dern des US-Kongresses mit den Worten:
»My, naród.« »We, the people«, schob der
Übersetzer hinterher, die ersten Worte der
amerikanischen Verfassung. Ein Jahr spä-
ter wurde Lech Wałęsa Polens Präsident.
Bei seinem Siegeszug standen zwei Brü-
der am Rand und schauten zu. Auch sie
waren Mitglieder der Solidarność und zeit-
weise Berater von Wałęsa, aber sie wollten
mehr. Wałęsa ging später auf Abstand zu
ihnen. Er traute ihnen nicht. Es waren die
Brüder Kaczyński.
Lech ist mittlerweile tot, gestorben 2010
bei einem Flugzeugabsturz in Smolensk.
Jarosław aber ist dabei, die Agenda der
Zwillinge zu Ende zu bringen. Er regiert
als PiS-Chef de facto das Land. Viele glau-
ben, die rachlustige Härte, mit der er Polen
umbaut, habe auch mit der Schmach die-
ser Jahre zu tun, in denen sein Bruder und
er nicht zum Zuge kamen. Es ist seine ganz
persönliche Revolution. Eine, die neue
Helden schafft – und alte stürzt.
Als Lech Wałęsa 2016 ankündigte, den
Widerstand gegen die nationalkonserva -
tive Regierung zu unterstützen, tauchten
neue Dokumente auf, die seine Arbeit als
Spitzel »Bolek« beweisen sollten. Wałęsa
sagt, die Dokumente seien gefälscht. Si-
cher ist: In Haft hatte er 1970 ein Papier
unterzeichnet, mit dem Geheimdienst ko-
operieren zu wollen. Die Zusammenarbeit
wurde sechs Jahre später beendet. Wałęsa
hatte nur 29 »Berichte« geliefert, alle mehr
oder weniger wertlos.
Seit 30 Jahren zanken sich Kaczyński
und Wałęsa darüber, wer von beiden im
Sinne Polens handelt und gehandelt hat.
Kaczyński wirft Wałęsa vor, bei den Ver-
handlungen am runden Tisch zu viele
Kompromisse mit den kommunistischen
Machthabern eingegangen zu sein. Wałęsa
beschuldigt Kaczyński, die Demokratie im
Land und damit auch sein, Wałęsas, Erbe
zu zerstören. Noch heute begründet
Kaczyński seine Justizreform damit, kom-
munistische Seilschaften in der Richter-
schaft beseitigen zu wollen. Das Gesetzes-
werk der PiS hat Polen ein Strafverfahren
durch die EU eingebracht. Kaczyński prägt


die Erzählung von einem Polen, das sich
von den Knien erhebt.
Wałęsa erwidert, das Land werde eher
in die Knie gezwungen. Wałęsa und Ka -
czyński sind sich ähnlicher, als es auf den
ersten Blick scheint. Sie gelten beide als
Einzelgänger, als dickköpfig und bera-
tungsresistent. Sie fühlen sich oft nicht
ernst genommen, sind einsam. Es heißt,
ihre Mitarbeiter hätten Angst vor ihnen.
Vielleicht sind sie auch deshalb zu Feinden
geworden: Sie ähneln sich zu sehr.
Im vergangenen Jahr trafen sie sich sogar
vor Gericht. Kaczyński, der immer wieder
behauptet hatte, der tragische Unfall nahe
Smolensk, bei dem sein Bruder und 95 Be-
gleiter aus Politik, Militär und Klerus ums
Leben gekommen waren, sei ein Attentat
gewesen, hatte Wałęsa verklagt. Denn der
wiederum hatte behauptet, Kaczyński sei
verantwortlich für den Flugzeugabsturz.
Der Richter befand, Wałęsa müsse sich ent-
schuldigen. Doch das will er nicht tun.
Vor dem Saal, unter dem Klackern der
Fotoapparate, mussten beide in dieselben
Mikrofone sprechen. Wałęsa bezeichnete
Kaczyński als »meinen großen Fehler«,
Kaczyński konterte: »mein Fehler«, darauf
Wałęsa: »nein, meiner«.
Wałęsa kann auch anders, differenziert.
Bei unserem zweiten Treffen sagt er: »Die

polnische Geschichte ist kompliziert. Oft
wurden uns fremde Herrscher überge-
stülpt. Wir haben gelernt, skeptisch zu blei-
ben, in ›my i oni‹ zu denken, in ›wir‹ und
›die‹!« Früher waren »oni«: die Deutschen,
die Russen, »die da oben«. Heute sind es,
aus Wałęsas Sicht: Kaczyński und seine
Leute. Für Kaczyński ist es natürlich um-
gekehrt.
Beim dritten Treffen sagt Wałęsa: »Ka -
czyński wird sich entweder umbringen
oder im Irrenhaus landen. Einen anderen
Ausweg sehe ich nicht.«
Es gibt viele, die sagen, Wałęsa sei nie
Politiker geworden, sondern immer Elek-
triker geblieben. Er selbst erzählt gern die
Anekdote von seinem Besuch im Schloss
Windsor 1991, als er den schlechten Zu-
stand der königlichen Steckdosen bemerkt
haben will. Anderthalb Jahre später brann-
ten Teile des Palasts ab.
Dass Wałęsa solche Anekdoten ständig
wiederholt, zeigt, wie sehr er bis heute um
Anerkennung kämpft.
»So ist das bei uns in Polen: Wer be-
rühmt ist, wird geächtet«, sagt Robert
Więckiewicz. »Im Ausland ist man stolz

auf seine Helden. Wer bei uns herausragt,
macht sich verdächtig. Wir Polen sind
noch immer gefangen in der sowjetischen
Mentalität.«
Wenn Więckiewicz ein Warschauer
Café betritt, drehen sich erst mal alle nach
ihm um. Er ist einer der bekanntesten
Schauspieler Polens, Wałęsa war eine sei-
ner größten Rollen. Als 2013 der Film von
Andrzej Wajda über Wałęsa in die Kinos
kam, hieß es, Więckiewicz verkörpere ihn
besser als Wałęsa selbst.
Er habe sich bei der Vorbereitung auf
die Rolle gefragt, wie es möglich sei, eine
solche Ikone zu verkörpern, sagt Więckie-
wicz – in einem Land voller Wałęsa-Ex-
perten. »Er hat ja zum Beispiel eine ganz
spezielle Art zu reden.« Więckiewicz legt
seine Stirn in Falten und das Kinn zurück,
sodass es sich verdoppelt, dann legt er los:
»Panie, panie, panie, panie!«
»So redet er, stimmt’s?«
Er komme auch aus einer Arbeiter -
familie, erzählt Robert Więckiewicz, aus
der Nähe von Breslau, sein Vater war Ze-
chenarbeiter – und Solidarność-Mitglied.
»1980 war ich gerade 13 Jahre alt. Wałęsa
war für mich Superman. Wie er vor das
Regime trat! Völlig angstfrei. Er war ein
Weckruf.«
Die Solidarność wuchs in diesen Jahren.
Wałęsa fuhr durch Polen. Er löste Streiks
auf, die zu eskalieren drohten, feuerte an,
wo Menschen wenig engagiert wirkten. Er
besänftigte sogar jene Gewerkschaftsfrak-
tion, die kurz davor war, aus Verzweiflung
zu den Waffen zu greifen. Viele sagen,
Wałęsa habe so verhindert, dass die Staa-
ten des Warschauer Pakts einmarschierten.
1981 kürte ihn »Time« zum »Menschen
des Jahres«.
Dass er auch noch den Friedensnobel-
preis bekommen sollte, davon erfuhr er
ein Jahr später, beim Pilzesammeln. Er
schickte damals seine Frau nach Oslo. Er
befürchtete, das Regime würde ihn nicht
wieder einreisen lassen.
Ein halbes Jahrhundert war Danuta
Wałęsa für die Polen »Frau Danuta«: eine,
die ihrem Mann den Rücken frei hielt –
und Mitarbeitern wie Journalisten Rühr-
eier briet, wenn sie mal wieder ihre Woh-
nung okkupierten. Dann, 2011, veröffent-
lichte sie ihre Memoiren. Sie verkauften
sich hunderttausendfach, viel besser als
die ihres Mannes. Heute sagen beide: Un-
sere Ehe ist beendet – auch wenn wir noch
zusammenleben.
Jarosław Wałęsa, 42 Jahre alt, ihr vierter
Sohn, ist ebenfalls Politiker geworden. Er
war zehn Jahre lang Abgeordneter der Op-
positionspartei »Bürgerplattform« im Eu-
ropaparlament. Er spricht mit hoher Stim-
me, anders als sein Vater. In schwarzem
Anzug und Lederschuhen sitzt er in sei-
nem Danziger Büro, in dem die Akten auf
Kante liegen.

84 DER SPIEGEL Nr. 33 / 10. 8. 2019

Ausland

»Im Ausland ist man stolz
auf seine Helden. Wer
bei uns herausragt, macht
sich verdächtig.«
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