er Spiegel - 10. August 2019

(John Hannent) #1
Wissenschaft

DER SPIEGEL Nr. 33 / 10. 8. 2019

»Die Patienten können selbst


etwas beitragen zu


ihrer seelischen Gesundung«


SPIEGEL-GesprächDer irische Neurowissenschaftler John Cryan über
den Einfluss der Darmmikroben auf das menschliche Gehirn und den Zusammenhang

zwischen Ernährung und psychischen Erkrankungen


Cryan, 46, gilt als einer der führenden Ex-
perten für den Zusammenhang zwischen
Mikrobiom, Gehirn und Psyche. Er lehrt
Neurowissenschaft am University College
Cork in Irland.


SPIEGEL:Herr Professor Cryan, was wis-
sen Sie über Ihren Darm?
Cryan:Wenig, wie ich gestehen muss. Ich
habe bisher der Versuchung widerstanden,
meine eigene Darmflora zu analysieren.
Natürlich weiß ich, dass dort eine vielfäl-
tige Gemeinschaft von Mikroben wohnt.
Aber ich bin eher der Typ Hausbesitzer,
der seine Mieter, solange es ihnen gut zu
gehen scheint, nicht ständig überwacht.
SPIEGEL:Sind Sie nicht neugierig? Das
Mikrobiom, die Gesamtheit der uns be -
siedelnden Mikroben, ist schließlich Ihr
Forschungsgebiet.
Cryan:Es mag Sie erstaunen, aber es ist
gar nicht so klar, was ich mit den Informa-
tionen über mein Mikrobiom eigentlich
anfangen könnte. Das gibt Ihnen einen
Eindruck davon, wo dieses Forschungsfeld
steht: Es gibt viel Aufregung. Es wird
immer klarer, dass die Darmmikro-
ben eine wesentliche Rolle sowohl
für unsere Gesundheit wie auch in
vielen Krankheitsprozessen spielen.
Aber wirklich verstanden haben wir
diese Rolle noch nicht.
SPIEGEL:Sie haben ein Buch über
das Mikrobiom veröffentlicht. Sie be-
schreiben es darin als unerhört kom-
plexes Gefüge, das in ständigem Aus-
tausch mit unserem Darmgewebe,
mit unserem Immunsystem und un-
serem Gehirn steht. Wie soll man sich
das vor stellen: Ist das Mikrobiom ein
weiteres Organ, das von der Medizin
nur lange Zeit übersehen wurde?
Cryan:Ja, einige Leute sprechen von
einem Organ. In meinen Augen ist


Das Gespräch führte der Redakteur Johann
Grolle.


das Mikrobiom sogar noch etwas viel Grö-
ßeres. Denn vergessen Sie nicht: Die Bak-
terien waren zuerst da, wir kamen erst viel
später. Wir neigen dazu, uns vorzustellen,
die Mikroben hätten sich in unserem Kör-
per ein gerichtet. Aber in Wirklichkeit ist
es genau umgekehrt: Wir haben uns in ih-
rer Welt eingerichtet.
SPIEGEL:Und wie kommunizieren unsere
Darmbewohner nun mit uns?
Cryan:Das beginnen wir gerade erst zu
verstehen. Viele der Mechanismen sind
uns noch unbekannt. Aber wir wissen,
dass die Mikroben zunächst direkt mit
dem Schleim interagieren, von dem die In-
nenwand des Darms überzogen ist. Und
dann kommunizieren sie mit den Epithel-
zellen, also mit der Zellschicht, die das
Darminnere umschließt. Entscheidend
wird es nun sein, genauer zu erfahren, was
für Substanzen diese Bakterien ausschei-
den. Sie ähneln winzigen Fabriken, die
lauter wundersame Stoffe herstellen, die
unser Körper ohne sie nicht produzieren
könnte. Wenn die Darmwand nun leckt

oder sonst wie verändert ist, dann können
die Bakterien auch ins Gewebe eindringen
und das enterische Nervensystem aktivie-
ren, das sogenannte zweite Gehirn, das
unseren Darm wie eine Art Socke um-
schließt. Und dieses zweite Gehirn wiede -
rum sendet dann seine Signale bis hoch
ins zentrale Nervensystem.
SPIEGEL:Ihr besonderes Interesse gilt dem
Einfluss der Mikroben auf unsere seelische
Gesundheit. Wann haben Sie erstmals ge-
merkt, dass es so einen Einfluss gibt?
Cryan:Ursprünglich bin ich Stressforscher,
deshalb interessierte mich, wie Stress auf
unser Immunsystem einwirkt und wie die-
ses wiederum mit dem Gehirn kommuni-
ziert. Vor 15 Jahren starteten wir ein Pro-
jekt zur Erforschung der chronisch ent-
zündlichen Darmerkrankungen (CED).
Niemand kannte die genauen Ursachen
dieser Leiden. Uns aber fiel auf, dass unge-
wöhnlich viele der Patienten als Baby oder
Kleinkind Stress erlebt hatten. Wir entwi-
ckelten deshalb ein Tiermodell für früh-
kindlichen Stress, indem wir neugeborene
Mäuse nach wenigen Tagen von ihren
Müttern trennten. Das hat Auswir-
kungen nicht nur auf das Gehirn, son-
dern auch auf das Immunsystem bis
hinunter in den Darm. CED ist also
der klassische Fall einer Störung der
Darm-Hirn-Kommunikation.
SPIEGEL:Und wo kommen die Mi-
kroben ins Spiel?
Cryan:Ja, genau da wird es span-
nend. Als wir nämlich die Darmflora
dieser Tiere genauer untersuchten,
stellten wir fest, dass ihre Vielfalt re-
duziert war – und zwar auch noch,
als sie längst ausgewachsen waren.
Eine frühkindliche Störung hatte also
das Mikrobiom lebenslang verändert.
SPIEGEL:Können Sie wirklich sicher
sein, dass die Trennung von den Müt-
tern die Ursache war?
Cryan:Sie haben recht. Der Nach-
weis eines kausalen Zusammenhangs

94


Mahlzeiten
für das Mikrobiom
Die psychobiotische
Ernährungspyramide

Quelle: »The Psychobiotic Revolution«

Süßigkeiten
und rotes Fleisch
einmal pro Woche
oder seltener

Geflügel und Eier
zwei- bis fünfmal
pro Woche

Fisch und
Meeresfrüchte
zwei- bis fünfmal
pro Woche
Fermentiertes
täglich:
zum Beispiel
Käse,
Joghurt
oder
Sauer-
kraut

Körner,
Nüsse,
Kräuter
und Öle
täglich

Getreideprodukte, Gemüse und Obst
mit jeder Mahlzeit
Free download pdf