er Spiegel - 10. August 2019

(John Hannent) #1

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SPIEGEL:Belege dafür gibt es aber nicht?
Cryan:Doch, zumindest bei Fruchtfliegen.
Forscher in Lissabon konnten zeigen, dass
ganz bestimmte Bakterien darüber bestim-
men, ob Fliegen Hefe oder Zucker bevor-
zugen. Aber kein Zweifel: Wir brauchen
hier noch viel mehr Daten, um die Steue-
rung unserer Vorlieben durch die Mikro-
ben besser zu verstehen.
SPIEGEL:In Ihrem Buch gehen Sie sogar
noch weiter: Nicht nur, was wir essen, son-
dern auch, wie wir uns sozial verhalten,
sei von den Mikroben in unserem Darm
mitbestimmt. Wie kommen Sie darauf?
Cryan:Diese Frage finde ich besonders
faszinierend, und ich bin sehr gespannt,
ob es uns gelingen wird, die Puzzleteile
zusammenzusetzen. Dass unser Sozialver-
halten einen Einfluss auf die uns besiedeln-
den Mikroben hat, liegt ja auf der Hand:
Wenn wir in Gruppen zusammenkommen,
erleichtert das den Mikroben das Leben,
weil sie leichter von Wirt zu Wirt über-
springen können. Die Frage ist aber: Gilt
das auch umgekehrt? Verändern Mikroben
unser soziales Verhalten? Ich erzähle Ih-
nen dazu unseren experimentellen Befund:
Wenn Sie Mäuse ihrer mikrobiellen Be-
siedler berauben, zeigen sie ein seltsam
verändertes Verhalten. Sie suchen nicht
mehr die Gesellschaft ihrer Artgenossen,
und ihr Interesse für neue, ihnen unbe-
kannte Mäuse erlahmt. Forscher in Kali-
fornien und Texas wiederum haben ge-
zeigt, dass die Verabreichung eines einzi-
gen Lactobacillus-Stammes ausreichen
kann, um die sozialen Defizite bestimmter
Mäuse zu lindern.
SPIEGEL:Sie empfehlen also Lactobacillus
gegen Autismus?
Cryan:So weit sind wir noch nicht. Aber
Sie haben recht: Ein wichtiger Teil unserer
Forschung zielt in der Tat auf Autismus
und andere Störungen des Sozialverhal-
tens – soziale Angststörungen, bestimmte
Aspekte der Schizophrenie, aber auch
Schüchternheit oder schlicht die Frage, ob
Sie eher introvertiert oder extrovertiert
sind. All das sind Dinge, die mitgestaltet
werden könnten durch die Kommunika -
tion zwischen Gehirn und Mikroben.
SPIEGEL:Noch stehen Sie ganz am Anfang,
wie Sie sagen. Sind Sie denn schon so weit,
dass Sie praktizierenden Psychiatern hand-
feste Empfehlungen geben können?
Cryan:Durchaus. Zunächst einmal kön-
nen die ihre Patienten animieren, darüber
nachzudenken, was sie eigentlich essen.
Eine Studie in Australien hat eindrucksvoll
gezeigt, dass sich die Verfassung von De-
pressiven durch eine Ernährungsberatung
signifikant verbesserte. Das Wichtigste
sind dabei die Ballaststoffe, was im We-
sentlichen heißt: viel Gemüse. Außerdem
gilt es, bestimmte Lebensmittel zu ver -
meiden – Süßstoffe etwa und Emulgato-
ren. Auch sonst kann man aus unserer For-


schung lebenspraktische Empfehlungen
ableiten. Wir wissen zum Beispiel, dass
Aerobic gut für das Mikrobiom ist und
Schlafmangel schlecht.
SPIEGEL:Klingt ziemlich unspezifisch.
Egal, mit welcher Diagnose einer zum Psy-
chiater kommt, lautet die Empfehlung: Be-
wegung, Gemüse und genügend Schlaf.
Cryan:Wie gesagt, noch stehen wir ganz am
Anfang. Das Schlechte ist, dass wir bisher
gar nicht wirklich wissen, wie ein norma-
les, gesundes Mikrobiom aussieht. Wir wis-
sen also nicht, wohin wir steuern müssen.
Andererseits ist das Gute, dass die Patien-
ten selbst etwas beitragen können zu ihrer
Gesundung. Das allein wirkt sich bereits
positiv auf die seelische Verfassung aus.
SPIEGEL:Weltweit steigt die Zahl psy -
chiatrischer Diagnosen. Ist diese Zunahme
womöglich auch auf Störungen des Mikro-
bioms zurückzuführen?
Cryan:Das halte ich für denkbar. In den ver-
gangenen 50 oder 60 Jahren hat sich unsere
Lebensweise im Westen drastisch verän-
dert – und überwiegend in einer Weise, die
sich negativ auf unser Mikrobiom auswirkt.
Nehmen Sie die gewaltige Zunahme der An-
tibiotika, das Aufkommen von Fertiggerich-

ten und industriell verarbeiteten Lebens-
mitteln. Und dann kommt noch der viele
Stress im Alltag hinzu. All das hat zu einer
Ver armung des Mikrobioms geführt. Es feh-
len uns inzwischen viele der Bakterien, die
im Darm unserer Vorfahren lebten.
SPIEGEL:Woher wissen Sie das?
Cryan:Weil Kollegen das Mikrobiom von
Naturvölkern untersucht haben, in Tansa-
nia, Malawi und Venezuela. Und das Inte-
ressante: Es gibt bei ihnen praktisch keine
chronisch entzündlichen Darmerkrankun-
gen, keine multiple Sklerose. Ganz gene-
rell lässt sich sagen: Wir sehen eine viel
geringere Inzidenz bei fast allem, was mit
Entzündungen zu tun hat. Und falls, wie
ich vermute, auch die Depression zumin-
dest bis zu einem gewissen Grad mit ent-
zündlichen Prozessen einhergeht, fällt es
nicht schwer, sich einen Zusammenhang
vorzustellen zwischen dem Verlust be-
stimmter Mikroben und der Zunahme von
Depressionen.
SPIEGEL:Ein weiterer Faktor, der sich
schädlich aufs Mikrobiom in unserer mo-
dernen Gesellschaft auswirken könnte, ist
die Zunahme der Kaiserschnittentbindun-
gen. Bei der natürlichen Geburt wird ein
Baby von den Mikroben der mütterlichen

Vagina besiedelt, bei der chirurgischen
Entbindung dagegen nicht. Führt das zu
nachhaltigen Veränderungen des Mikro-
bioms?
Cryan:Vieles spricht dafür, dass die Ant-
wort Ja lautet. Es gibt eine ganze Reihe
von Studien, die zeigen, dass der Effekt
mindestens sechs Monate lang anhält. Zu-
letzt konnten Kollegen hier in Cork sogar
nach vier Jahren noch Unterschiede zwi-
schen dem Mikrobiom von Kaiserschnitt-
babys und demjenigen natürlich geborener
Kinder nachweisen.
SPIEGEL:Und wie finden Sie heraus, ob
sich solche Unterschiede auf die Gesund-
heit auswirken?
Cryan:Was mich besonders interessiert,
ist die Frage kritischer Fenster ...
SPIEGEL:... das heißt also, ob die Mikro-
ben zu ganz bestimmten Zeitpunkten in
die Entwicklung eines Kindes eingreifen?
Cryan: Genau. Wenn das Mikrobiom
gleich nach der Geburt verändert ist, dann
bedeutet dies, dass das sich entwickelnde
Immunsystem andere Signale bekommt.
Und in der Tat belegen epidemiologische
Studien eindeutig, dass das Risiko für
immunbedingte Erkrankungen wie zum
Beispiel Allergien und Diabetes Typ 1 un-
ter Kaiserschnittbabys erhöht ist. Mög -
licherweise gilt dasselbe auch für das Ge-
hirn, wenngleich diese Frage bisher weni-
ger gut erforscht ist.
SPIEGEL:Sie meinen also, das Fehlen be-
stimmter mütterlicher Mikroben könnte
bei den Kaiserschnittsäuglingen das Risiko
von neuronalen Entwicklungsstörungen
erhöhen?
Cryan:Genau diese Frage untersuchen wir
derzeit. Bei Mäusen, die per Kaiserschnitt
geboren worden waren, konnten wir nach-
haltige Verhaltensveränderungen nachwei-
sen – und das, obwohl sich das Mikrobiom
der ausgewachsenen Tiere nicht mehr von
dem natürlich geborener Artgenossen
unterschied. Das zeigt, dass es manchmal
nicht darauf ankommt, welche Mikroben
heute in Ihrem Darm leben, sondern auf
diejenigen, die dort lebten, als Sie ein Baby
waren.
SPIEGEL:Gezeigt haben Sie das, genau
genommen, nur für Mäuse. Wie sieht es
denn beim Menschen aus, haben Sie auch
da Erkenntnisse?
Cryan:Ja, den Fachartikel darüber schrei-
ben wir gerade. Wir haben Medizinstuden-
ten Stresstests ausgesetzt und dabei fest-
gestellt, dass sowohl die immunologische
wie auch die psychische Stressreaktion bei
denjenigen, die durch Kaiserschnitt auf die
Welt gekommen waren, stärker ausgeprägt
war als bei den anderen.
SPIEGEL:Und das, glauben Sie, könnte
vom Einfluss der Mikroben in der frühen
Kindheit herrühren? Ist das nicht sehr weit
hergeholt? Können Darmbakterien wirk-
lich die Hirnentwicklung beeinflussen?

Wissenschaft

»Das Risiko für Allergien


und Diabetes Typ 1


ist unter Kaiserschnitt -


babys erhöht.«

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