er Spiegel - 10. August 2019

(John Hannent) #1
DER SPIEGEL Nr. 33 / 10. 8. 2019 97

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Stimme aus dem Bauch


Wie Darmbakterien auf das Gehirn wirken


Hormone Gehirn Immunsystem


Die Bakterien stellen Botenstoffe
her, die über die Darmwand ins Blut
und von dort aus ins Gehirn gelangen.

Vagusnerv
Er stellt die Verbindung
zwischen Gehirn und
Darm her und bildet
die sogenannte Darm-
Hirn-Achse.

Mikrobiom^1
Die Bakterien siedeln im Darminneren,
dem Lumen. Die Darmwand wird von zwei
großen ringförmigen Nervengeflechten, dem
enterischen Nervensystem, umschlossen.
Dieses »zweite Gehirn« steuert autonom
Darmfunktionen, steht aber auch über den
Vagusnerv mit dem Gehirn in Verbindung.

Botenstoffe

Darmwand

Schleimschicht

Darmwand

»Zweites
Gehirn«
Nervengeflechte Lumen Bakterien

Lumen

Wird die Zusammen-
setzung des Mikrobioms
zum Beispiel durch
eine Antibiotikatherapie
aus dem Gleichgewicht
gebracht, könnte dies
Auswirkungen auf die
Körperabwehr haben.

Neurotransmitter wie
beispielsweise Serotonin
werden in beiden »Gehirnen«
hergestellt. Sie beeinflussen
unser Wohlbefinden und
im Bauch die Darmtätigkeit
und das Immunsystem.

Eine gestörte
Kommunikation
zwischen Hirn
und Mikroben
könnte sich
möglicherweise
negativ auf
unser Verhalten
auswirken.

Cryan:Im Tierversuch ist das gut unter-
mauert. Unsere Untersuchungen an keim-
frei aufgewachsenen Mäusen zeigen zwei-
felsfrei, dass Mikroben für die normale
Hirnentwicklung notwendig sind. Beim
Menschen gibt es dazu bisher kaum Daten.
Die pädiatrischen Neurologen entdecken
das Thema aber gerade. Sie können sich
vorstellen, dass das Interesse besonders
bei Babymilchherstellern groß ist.
SPIEGEL:Könnte man Babys nach einem
Kaiserschnitt nachträglich mit einem Va-
ginalabstrich ihrer Mutter beimpfen und
sie so künstlich mit deren Bakterienflora
besiedeln?
Cryan:Das wurde bereits gemacht. Und tat-
sächlich konnten die mikrobiellen Defizite
der Babys auf diese Weise behoben werden.
Aber der Verband der Gynäkologen und
Geburtshelfer in den USA hat sich entschie-
den gegen diese Praxis ausgesprochen – we-
gen der Gefahr von Infektionen mit Strep-
tokokken oder anderen gefähr lichen Kei-
men. Deshalb setzen wir eher auf Eingriffe
durch richtige Ernährung. In Tierversuchen
haben wir gezeigt, dass sich den dauerhaf-

ten Folgen von Kaiserschnittentbindungen
durch frühzeitige Fütterung mit Bifidobak-
terien begegnen lässt. Jetzt arbeiten wir zu-
sammen mit der Industrie daran, die richtige
Rezeptur für menschliche Babys zu finden.
SPIEGEL:Wie weit sind Sie damit?
Cryan:Wir kommen voran. Besonders ver-
blüfft hat mich die enorme Komplexität
von Zuckern, die wir in menschlicher
Muttermilch gefunden haben. Das Über-
raschende: Es sind dies Zucker, die von
dem Säugling selbst gar nicht abgebaut
werden können. Die Mutter füttert damit
also nur die Bakterien im Darm ihres Ba-
bys. Die wiederum fungieren dann als na-
türliche Pharmafabriken: Sie nehmen die
Zucker aus der Muttermilch auf und wan-
deln sie in für den kindlichen Organismus
nutzbare Substanzen um, zum Beispiel in
Sialinsäure, die sehr wichtig für die Hirn-
entwicklung ist. Dieser Zusammenhang
könnte mitverantwortlich sein für die posi -
tive Wirkung von Muttermilch auf IQ und
kognitive Fähigkeiten.
SPIEGEL:Mütter, sagen Sie, geben auf dem
Weg über das Mikrobiom Signale für die

geistige Entwicklung an ihre Kinder weiter.
Tut sich damit nicht ein ganz neuer Weg
der Vererbung auf, der bisher von der Wis-
senschaft übersehen wurde?
Cryan:Das ist ein ganz heißes Thema. Es
gibt viel Forschung zu der Frage, ob Merk-
male auch auf anderem als dem geneti-
schen Weg von einer Generation an die
nächste weitergegeben werden können.
Meist steht dabei aber die sogenannte Epi-
genetik im Mittelpunkt, also chemische
Veränderungen am Erbmaterial. Die Rolle
des Mikrobioms wurde bisher kaum be-
achtet. Wir sind jedoch überzeugt, dass es
eine solche Rolle gibt.
SPIEGEL:Wie veränderlich ist das Mikro-
biom im Verlaufe unseres Lebens?
Cryan:Es ist relativ stabil, wenn es erst
einmal fertig ausgebildet ist. Das zeigte
zum Beispiel eine Studie von Eric Alm am
MIT bei Boston. Seine Postdoc-Studieren-
den haben ein Jahr lang jeden Tag eine
Stuhlprobe genommen und außerdem ge-
nau protokolliert, was gerade passiert war.
Ihr Mikrobiom blieb während dieser Zeit
weitgehend unverändert. Außer während
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