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Elke SchmitterBesser weiß ich es nicht
Sand ohne Getriebe
Meine Tante hat sie noch gefal-
tet. Sie lagen, glatt gestrichen
und auf Kante, in einem höl-
zernen Regalboden; schim-
mernde Perfektion, untade-
lig in jeder Weise und jede ein
wenig anders – wenn nicht in
Farbe, Format und Druck, dann doch
immerhin in den kleinen Falten, Wellen
und Erhebungen, die sie im Gebrauch
bekamen.
Ich nehme an, sie hatte Respekt vor
ihnen. In einer Haushaltswelt, deren
Dinge vornehmlich aus Holz, Metall
oder aus Stoff waren, korbgeflochten
oder aus gedrehten Fasern wie das Ein-
kaufsnetz, aus Leder wie die Taschen,
war dieses kühle, versiegelte Material,
das sich nicht reparieren ließ und
dessen Urstoff nirgends zu fassen oder
auch nur zu sehen war, ein wenig
unheimlich, aber auch luxuriös. Fast
alles andere verwitterte oder verfärbte
sich mit der Zeit, wurde pockig oder
zerkratzt, war warm oder rau, faserig
oder körnig unter der Hand, porös,
lichtschluckend, gemasert, faltig und
unversiegelt; von einer leise ächzenden
Kameradschaftlichkeit. Was glatt war,
vollkommen geformt, lichtreflektierend
und dauerhaft, das war normalerweise
kostbar oder zumindest von einem
gewissen Wert: Schmuck, Geschirr aus
Porzellan, Messer und Scheren, Vasen
aus Keramik. Es wog etwas. Und es hat-
te etwas gekostet.
Wir nehmen Abschied von der
Plastiktüte. Eine Maßnahme, die in
Deutschland vor allem Symbolwert
hat. Eine Regierung, welche die
Richtlinien der EU gegen die Nitrat -
belastung im Grundwasser seit etli-
chen Jahren verletzt, die industrielle
Landwirtschaft fördert und die der
Autoindustrie geradezu hörig ist,
widmet sich einem berüchtigten, aber
hierzulande geringfügigem Unwelt -
problem, einem Sandkorn in der
Wüste des Versagens. Wir werden
unsere nassen Badehosen künftig in
Wachstuch einwickeln und die Äpfel
in einer Papiertüte aus dem Laden
nach Hause tragen (deren Ökobilanz
nicht wesentlich besser ist als die der
durchsichtigen, hauchdünnen Tüten,
die uns derzeit ein schlechtes Gewissen
machen), und diese Petitessen werden
lästig sein, aber moralisch erhebend.
Nur sollten wir sie nicht mit Politik ver-
wechseln.
An dieser Stelle schreiben Elke Schmitter und
Nils Minkmar im Wechsel.
Dichter
Alles ist erleuchtet
Die Dose, in der er sein Hasch aufbe-
wahrte, ist erhalten; er baute es selbst
an, in Schleswig-Holstein, auf dem Land.
Peter Rühmkorf war ein großer Kiffer,
ein großer Trinker und
Frauenliebhaber. Vor
allem aber war er ein
wundervoller Dichter:
politisch, ohne die Leu-
te erziehen zu wollen;
humorvoll, ohne Witze
zu machen; voller Ge -
fühl, ohne kitschig zu
sein; gebildet, ohne
zu belehren. Ein freier
Geist eben, der seine
Leser erleuchtet hat,
bewegt und entzückt.
Über Jahrzehnte lebte
Rühmkorf in Hamburg-Altona an der
Elbe, da ist es nur konsequent, dass das
Altonaer Museum dem Lyriker, Essayis-
ten und Tagebuchschreiber, der 2008
gestorben ist, zu seinem 90. Geburtstag
eine Ausstellung widmet: »Laß leuch-
ten!«, gestaltet von der Arno-Schmidt-
Stiftung. Eine außerge-
wöhnlich kurzweilige
Angelegenheit mit
vielen Fotos, Filmen,
Manuskripten, Objek-
ten (die Hanf-Dose!) in
einer bunten, manch-
mal fast psychedelisch
wirkenden Ausstel-
lungsarchitektur. Oder
wie Susanne Fischer
von der Arno-Schmidt-
Stiftung sagt: »Der
Budenzauber hätte ihm
gefallen.« SHA
Podcasts
Limette am Ohr
Als Laufbegleitung ist der neue Pod-
cast von Jasna Fritzi Bauer und Benjamin
von Stuckrad-Barre eher nicht geeignet;
das mähliche Schlendern durch die Sen -
sationen des Alltags könnte sich übertra-
gen. Ansonsten passt alles zum urbanen
Leistungsträger, der für die Mühsal des
Lebens Entschädigung sucht, indem er
sich folgenfrei amüsieren lässt. Die Schau-
spielerin Jasna Fritzi Bauer, 30, und der
Schriftsteller und Performer Benjamin
von Stuckrad-Barre, 44, unterhalten sich
in ihrem auf Spotify frisch gestarteten
Podcast »Ja Ja, Nee Nee« über das
Trinken am Tag und zu Hause, über Aus-
gehen und Rumstehen des Nachts, über
das Wörtchen »vielleicht« als Intelligenz-
beleg, über den Unterschied zwischen
Limone und Limette, Kierkegaard-Sprü-
che über dem Bett und andere Phänome-
ne der gehobenen Unbeschwertheit –
freundlich wie Partygäste, die definitiv
nicht gehen, solange es noch etwas zu
trinken gibt. Der Übergang vom Plau-
dern zum Plappern ist naturgemäß flie-
ßend; auch wer keine Sorgen hat, trinkt
hier Likör. ES
DLA MARBACH
Rühmkorf um 1955
Literatur
Zurück in die Schlacht
Der Kriegsheimkehrer Andreas Pum
hat ein Bein verloren, aber nicht seinen
Glauben an Gott und die Regierung. Er
hofft auf eine Leierkastenlizenz, und
die bekommt er, eine appetitliche Witwe
dazu – sein kleines Glück ist gemacht.
Bis es dem unbegreiflichen Schicksal
gefällt, ihn durch eine Lappalie zu ver-
nichten. Dieser frühe Roman Joseph
Roths, nun in einer sorgfältig edierten
Ausgabe wieder aufgelegt, um Feuille-
tons aus der Entstehungsperiode und
ein instruktives Nachwort ergänzt, hat
auch nach fast einem Jahrhundert nichts
von seiner gleißenden Härte verloren.
Wie kein anderer Romancier der deut-
schen Sprache hat dieser Autor die Er -
fahrung seiner Generation in so schöne
wie bittere Sätze gefasst. Zum Militär
hatte der Ex-Soldat der K.-u.-k.-Armee
ein zwiespältiges Verhältnis. Er »liebte
das Exerzieren«, den physischen und psy-
chischen Gleichklang und die Kamerad-
schaft an der Front. Zugleich erholte er
sich, wie viele seiner männlichen Helden,
niemals von den Grausamkeiten, die
man den Kämpfenden abverlangte
und die sie erdulden mussten. Nach
dem Ersten Weltkrieg etablierte
Roth sich als erfolgreicher Autor und
beschrieb mit Präzision und Mitgefühl
immer wieder das Straucheln derer, die
wie sein Held Pum versehrt an Leib und
Seele blieben, in An stalten geradezu ver-
moderten oder im Alltag untergingen.
Denn »wir haben so -
fort erkannt«, schrieb
er 1925, »dass wir aus
einem kleinen Schlacht-
feld in ein großes heim-
gekehrt sind«. ES
Joseph Roth: »Die Rebel -
lion«. Wallstein; 280 Seiten;
24 Euro.